Klimanotizen 77
»Rettungsgipfel« oder »Treffen gegen den Weltuntergangsblues«? Zum Start der COP30 ist viel von einem »Realismus« die Rede, der sich vor der Biophysik längst blamiert hat. Über Ölländer gegen Elektrostaaten, den »Wachstums-Klimaminister« auf der Eisscholle und einen Augenöffner von Lukas Haffert.
#1 In Belém startet die COP30 und Jasper von Altenbockum verkündet in der FAZ, es sei »besser die Folgen des Klimawandels mit Realismus bekämpfen als die Ursachen mit Utopismus«. Sein Versuch, klimapolitischen Revisionismus zum eigentlichen Pragmatismus zu adeln, verallgemeinert den Gegensatz zum Normalwiderspruch der Politik: »Es ist der Gegensatz zwischen einer Politik, die gesinnungsethisch gegen eine Wand rennt, und einer Politik, die durchsetzen will, was real möglich ist.« Das Argument wird von den drei Hauptpfeilern der Rechtfertigung des Falschen getragen: Herabwürdigung vernünftiger Veränderungsmotive zur heute eh schlecht angesehenen Moralangelegenheit; Naturalisierung gesellschaftlich gemachter, also eigentlich veränderbarer Gegebenheiten zur angeblich unverrückbaren Wand; Verteidigung eines anachronistisch gewordenen Pragmatismus-Radikalismus-Verständnis, das sich vor der Biophysik längst blamiert hat: Was als Realpolitik heute noch gelten will, müsste zu einem Radikalismus bereit sein, den im Grunde derzeit alle scheuen. Womit der verletzliche Punkt der hier formulierten Kritik an Altenbockum markiert wäre: Haben denn die Gutwilligsten einen belastbaren Plan, das durchzusetzen, was klimapolitisch wirklich nötig wäre?
Man kann von Altenbockums Einlassung auch als modellhaft betrachten, es ist von Sound und Stoßrichtung her das, was man auch von Bill Gates gelesen hat, der dies als »Truth« sprachlich gegen Kritik abpanzert, es liegt auf der Linie der Rede von Friedrich Merz beim Klimagipfel, entspricht dem politischen Agieren vieler Regierungen: Es wird schon nicht so schlimm – und was dann doch auf uns zukommt, das lässt sich technisch und im Rahmen des Bestehende lösen. »Unsere Wirtschaft ist nicht das Problem. Unsere Wirtschaft ist der Schlüssel.« (Merz) In anderer Variante wird der »pragmatische Klima-Reset« von Michael Liebreich von BloombergNEF propagiert: das 1,5-Grad-Ziel, ohnehin nicht mehr erreichbar, führe schlechten politischen Entscheidungen, realistische Zeit- und Senkungspläne seien nötig, was praktisch die Aufgabe des Ziels Dekarbonisierung bedeutet. Rico Grimm von Cleantech hat dazu ein paar Anmerkungen gemacht. Und Ottmar Edenhofer ruft hier in Richtung Gates dazwischen, dass es Unsinn ist, Klima- von Entwicklungspolitik zu trennen: »Entwicklungspolitik in einer um drei oder vier Grad erwärmten Welt kann sich niemand vorstellen.«
#2 Wo stehen wir? Laut »Emissions Gap Report 2025« des UNEP wird die globale Erhitzung Ende des Jahrhunderts bei 2,8 Grad Celsius liegen, wenn die gegenwärtige Politik fortgesetzt wird; bei vollständiger Umsetzung der NDCs käme die Welt 2100 bei 2,3 bis 2,5 Grad heraus. Unlängst warnten Meteorologen und Physikerinnen, dass bereits um 2050 herum die Erwärmung 3 Grad erreichen könnte, bis 2100 seien bis 5 Grad wahrscheinlich. Laut einer neuen Studie von Climate Analytics und dem Potsdam-Institut für Klimafolgenforschung ist das 1,5-Grad-Ziel doch noch erreichbar – vorausgesetzt, alle Staaten handeln mit »höchstmöglicher Ambition«. Schon in diesem Wunsch-Szenario dauert der Overshoot freilich länger und wird wärmer als in früheren Analysen. Setzen weiter die »Pragmatiker« den Kurs, wird umso realistischer, dass die Folgen einer auch nur vorübergehenden Überschreitung der Temperatur-Zielmarken schwerwiegender sein werden. Irreversibel ist ein Teil von ihnen, etwa der Meeresspiegel-Anstieg, ohnehin, wie unter anderem das Potsdam-Institut analysiert hat. Wie »realistisch« Pläne sind, von der maximalen Erwärmung etwa durch hochskalierte CO2-Entnahmen aus der Atmosphäre herunterzukommen, kommt als offene Frage hinzu. Etwas trügerisch ist auch die Fokussierung auf die globalen Temperaturwerte bei all diesen Szenarien. Bisher sind in der Bundesrepublik die Temperaturen im Zuge der Erderhitzung »doppelt so schnell gestiegen als im weltweiten Durchschnitt«, so der DWD in einem neuen Faktenpapier 2025 zu Extremwetter. Der Aufwuchs betrug in Deutschland bereits 2,5 Grad; das Jahresmittel für 2024 lag hierzulande bereits 3,1 Grad über dem frühindustriellen Niveau. Wie realistisch werden also fünf oder sechs Grad mehr und was heißt das für das, was dann noch »real möglich ist«, etwa an Landwirtschaft, Wasserversorgung, Biodiversität und so fort?
#3 Nicht ganz überraschend nimmt die Geopolitik als Rahmen einen zentralen Stellenwert in den Ausblicken auf die COP30 ein, vor allem die durch verschiedene Faktoren verschärften Spannungen zwischen Globalem Norden und Süden. Unlängst hat die Deutsche Gesellschaft für Auswärtige Politik ein Memo »zur Interdependenz von Klimawandel und Geopolitik« herausgegeben. Wie der Klimawandel selbst »als Risikomultiplikator und Konflikttreiber« wirkt, wird hier übersichtlich erläutert. Sich Staatenbeziehungen nicht mehr nur im »alten Raster« anzusehen, sondern durch ein planetares Paradigma, erweitert die Perspektiven. Susanne Götze konstatiert zum Start der 30. Weltklimakonferenz einen »Kampf der Welten – Ölländer gegen Elektrostaaten«, wobei China die Spitze der letzteren innehat, die Petrostaaten nicht aufgeben und die EU irgendwie zwischen den Stühlen sitzt. Niklas Höhne vom New Climate Institute spricht bei den »Klimareportern« über die aktuelle Rollenverteilung entlang der Konfliktachse solar versus fossil. Höhne spricht hier mit der Entwicklungsgeographin Lisa Schipper und Lambert Schneider vom Öko-Institut über den Stand der Dinge zu Beginn des Klimagipfels. Dass die »USA nicht im Weg« sind, sieht Christian Stöcker als gutes Omen für Belém – und er findet auch noch vier weitere Punkte, »warum diese Klimakonferenz ein Erfolg werden könnte«, darunter die nach wie vor »gewaltigen« globalen Mehrheiten für mehr Klimaschutz und »die Märkte«: Es werde heute in erneuerbare Energien, Speichertechnologie, Elektromobilität und so weiter »bereits doppelt so viel investiert wie in fossile Brennstoffe«. Auch Michael Bauchmüller ist ein bisschen optimistisch, die COP30 könnte Fortschritte im Kampf gegen die Erderwärmung bringen, »obwohl alle Zeichen auf Rückschritt stehen. Ganz unmöglich ist das nicht«. Marlene Weiß sieht das anders: »Vieles könnte man immer noch verhindern, die Lösungen sind da, mehr als je zuvor. Aber zehn Jahre nach dem Paris-Vertrag muss man zum bitteren Ergebnis kommen: Es ist uns wohl nicht wichtig genug.« Worum es beim »Rettungsgipfel in Brasilien« geht, außer um ein »Treffen gegen den Weltuntergangsblues«, wird unter anderem hier und hier erläutert. Beim Carbonbrief gibt es wie üblich tolle Übersichten darüber, wer was bei der COP30 will und wie nahe diesmal ein »globales Ziel der Anpassung« liegen könnte. Auch ein umfassendes Tracking der Verhandlungstexte wird wieder angeboten. Die Datenlabore dreier deutscher Bundesministerien und die GIZ haben »ein KI-Tool entwickelt, das Delegationen bei der Verarbeitung von UNFCCC-Eingaben zum COP-Prozess unterstützt« – hier geht es zu NegotiateCOP. Und die Deutsche Meteorologische Gesellschaft hat anlässlich Belém noch einmal ein gut verständliches »Klimafaktenpapier« veröffentlicht – Motto: »Jedes Zehntelgrad ist entscheidend«.
#4 Die Grünen starten an diesem Montag eine Klimakampagne. Fraktionschefin Katharina Dröge sieht Gas-Ministerin Katharina Reiche mit einem vom Kanzler ausgegebenen »Kampfauftrag gegen den Klimaschutz« unterwegs, Parteichef Felix Banaszak kritisiert »den klimapolitischen anti-ökologischen Rollback« der Merz-Regierung. In der Linksfraktion hofft man noch darauf, dass die Bundesrepublik »endlich unter Beweis« stellen werde, »Vorreiter beim Klimaschutz« zu sein, ist angesichts des gegenwärtigen EU-Klimakurses »fassungslos« und fordert angelegentlich der COP30 »umfassende Schuldenerlasse und gerechte Klimareparationen für Länder des Globalen Südens«. Die SPD stellt gerade den Umweltminister, der – na klar: jetzt auch eine »realistische Klimapolitik« will. Immer über Gefahren zu sprechen, so zitiert ihn die FAS, »bringt niemanden weiter«; Schwarz-Rot wolle zeigen, so die Zeitung, »dass die globale Energiewende für Deutschland ein gutes Geschäft sein kann«. Dass der Sozialdemokrat bisher »mit seinen Themen kaum durchdringen« konnte und in Wahrheit eine recht »einsame Klima-Mission« verfolgt, gehört ebenso zur Wahrheit wie die Tatsache, dass Schneider ganz im allgemeinen Zeitgeist als »Wachstums-Klimaminister« auftritt: Was immer als wirksames Mittel angepriesen wird, muss den Steigerungsdynamiken folgen, welche die Krise überhaupt erst mitbefeuern. Zum Thema »Wachstum« steht hier das Entscheidende und auch ein Zitat von Claus Offe, das nicht nur auf den oben zitierten Jasper von Altenbockum zutrifft: »Wer auf festem Grund des Machbaren und Realistischen zu stehen meint, der steht möglicherweise auf einer Eisscholle, auf der man ausrutschen oder die wegschmelzen kann.« Dass die Präsidentin des WZB, Nicola Fuchs-Schündeln, mit Blick auf das, was allgemein als »Rechtsruck« aufgefasst wird, meint, »wenn wir langfristig kein Wachstum hätten, bekämen wir ein ernsthaftes Problem« mit der Demokratie, zeigt nur, wie verfahren die Kiste ist, wenn man neben der planetaren auch noch die Krise der Republik zur Kenntnis nimmt. Minister Schneider wird der WZB-Forscherin nicht widersprechen. Trotzdem wäre es hilfreich, wenn in der Sozialdemokratie (und nicht nur dort) irgendwer einmal ins Archiv steigt und ein Papier der Grundwertekommission von 2010 aus der Versenkung holt – Thema: »An den Grenzen des Wachstums – neuer Fortschritt ist möglich«. Da ist von jenem »Epochenwechsel« die Rede, der auf der politischen Bühne von nahezu allen Akteuren ignoriert wird: jene Moderne, die von einem Fortschritt getragen wurde, der auf Naturbeherrschung und grenzenlosem Wachstum beruhte, und dessen soziale Ableitungen auf eben diesem Wachstum gründeten, »geht unwiderruflich zu Ende«, hieß es da. »Ganz gleich, ob wir es wahr haben wollen oder nicht, ökologisch sind die Grenzen des bisherigen Wachstums erreicht, ökonomisch ist es immer weniger möglich und auch die sozialen Aufgaben können nicht mehr erfüllt werden, wenn sie wie bisher ein hohes Wachstum voraussetzen.«
#5 Apropos »Rechtsruck«. (Eine gute Einordnung der Ergebnisse der jüngsten »Mitte-Studie« gibt es übrigens von Sebastian Friedrich und Nils Schniederjann.) Eine lesenswerte Analyse dazu, wie konservative Technophilie (»Technologieoffenheit«), das exportorientierte deutsche Wachstumsmodell und räumliche Verschiebungen von den (sozialdemokratischen) Städten in den (konservativen) ländlichen Raum zusammenhängen, hat Lukas Haffert im neuen »Leviathan« vorgelegt. Ein Ausgangsgedanke lautet, »dass eine der zentralen politischen Fragen unserer Gegenwart die nach dem Umgang mit Knappheiten ist«; dies betrifft einerseits das Regime »permanenter Austerität«, andererseits den Ressourcenverbrauch und die Belastbarkeit der Erdsysteme. Auf diese Knappheitsprobleme gibt es im Grunde, so Haffert, zwei mögliche Antworten: eine »Politik des Mehr« (Ausweitung des Angebots) und eine »Politik des Weniger« (Einschränkung der Nachfrage). Erstere hat ihre soziale Basis heute vor allem im ländlichen Raum, letztere in den Zentren von Metropolen und in Universitätsstädten. Haffert: »Der konservative Schwenk zur Technologie ergibt insofern Sinn, weil er eine Politik des Mehr möglich zu machen scheint, für die nicht wirklich neue Ressourcen mobilisiert werden müssen.« Daher auch die konservative Faszination für Lösungen wie Fusionsenergie oder autonome Mobilität. Das grundlegende Dilemma der Steigerungsdynamiken wird dabei freilich nicht gelöst, nur verschleiert: Auf eine Politik der »Angebotsausweitung ohne Ressourceneinsatz« abzustellen, kollidiert bisher mit der politischen Physik gesellschaftlicher und ökonomischer Zusammenhänge. Gerade hat der kanadische Soziologe Éric Pineault auf die Gesetze der Thermodynamik und die Rolle der Entropie in diesem Zusammenhang hingewiesen (siehe schon hier und hier). Aktuelle Rezensionen gibt es von Guido Speckmann und Sebastian Klauke.