Klimanotizen 76
Wie kommt man weg von der autoritären Entwirklichung – hin zur kollektiven, solidarischen Ver-Wirklichung? Über Realitätsinszenierungen, »Subjekte der ökologischen Verwüstung« und doppelte Zerstörungslust als Normalzustand: Hilft neues Vertrauen in Veränderung, dass die Leute nicht verrückt werden?
#1 Der »Zeitung für Deutschland« gelingt das Kunststück, in einem zweiseitigen Kanzler-Interview alle planetaren Fragen zu umlaufen. Steckt dahinter ein kluger Kopf? Nun, Friedrich Merz mag sich gerade tagespolitisch durch andere Probleme herausgefordert sehen. Ein schwerwiegender Irrtum dabei ist jedoch, deren Verwobenheit mit dem klimapolitischen Gesamtkomplex zu ignorieren. Wem zu »Klima« nur der Hinweis auf ein »Meinungsklima« einfällt, durch das sich die AfD nähre; wer bei »Energie« lediglich an seine eigene denkt und daran, sie für »das Beste für Deutschland« einzusetzen, also die »Abschaffung des Bürgergeldes« – der will nicht begreifen, dass die eigentliche »Herausforderung für die Demokratie« in den (durch deren Konkurrenzlogiken größtenteils selbst) blockierten Transformationskonflikten liegt: Unumgängliche Veränderungen sind aus existenziellen Gründen nötig, das wissen alle – fossile Interessen, Sorgen vor dem Wandel, deren parteipolitische Ausbeutung und die damit einhergehende Verschiebung auf andere politische Felder (Kulturkämpfe, cruelty signaling, »Stadtbild«-Projektionen) befeuern jedoch Verlustängste und lassen nach subjektiver Erleichterung durch Verdrängung streben.
Dabei schreitet Merz nur wenige Zentimeter (aber auf Abstand bedacht) von jener Wahrheit entfernt durch den Kommunikationsraum, in dem »die Politik« diese Wahrheit nicht aussprechen kann: »Wie früher – das gibt es nicht wieder. Die CDU und ich als ihr Vorsitzender müssen der Bevölkerung erklären, dass die Vergangenheit nicht die Zukunft wird.« Da ist sie wieder, »die Unausweichlichkeit von Veränderungen«, von welcher der Kanzler schon unlängst tönte, um dann aber per Aktivierung von sozialen Gängeleien gegen die Schwächsten von den Veränderungen abzulenken, die tatsächlich unausweichlich sind.
Das kann einem Merz natürlich nur gelingen, wenn niemand »Halt« ruft und den Regierungschef zum Tanz in der »Spaltungszone« drängt: Dort, so hat gerade eine Studie erläutert, bestehen besonders »stark entgegengesetzte Meinungslager und hohe gegenseitige emotionale Aufladung«, vor allem, na klar: in Sachen Klima. »Hier wird lösungsorientiertes politisches Handeln sehr erschwert«, sagt einer der Autoren des Polarisierungsbarometers.
#2 Wird es leichter dadurch, dass man Radikalität und Durchgreifen auf Nebenschauplätzen inszeniert, dabei einer Erwartungsfiktion dankbar aufsitzend, die vom Souverän bloß die lautesten und reaktionärsten Teile zur Kenntnis nimmt? Im neuen »Mittelweg 36« hat Stephan Lessenich den Zusammenhang von Realitätsflucht und Realitätsinszenierung als »Autoritäre Entwirklichung« beschrieben: »Paradoxerweise vollzieht sich der teils politisch-programmatische, teils alltäglich-praktische Abschied aus der gesellschaftlichen Wirklichkeit über die mittlerweile hegemonial gewordene Fremd- und Selbstanrufung, realistisch zu sein, sich – endlich – den Realitäten zu stellen.« Überall wird »mehr Realismus wagen« gerufen, dahinter verbirgt sich aber und nicht nur bei Merzens CDU ein »Angriff auf das Realitätsprinzip, die aus den Tiefen der kollektiven Verunsicherung gespeiste Tendenz zur Entwirklichung«, das »institutionell beförderte und alltagspraktisch dankbar angenommene Leben im Als-ob«, das zu verlängern man sich im Wissen wünscht, dass ein »jahrzehntelang funktionierendes Reproduktionsmodell, das als Kombination von Korporatismus des ›produktiven Kerns‹ und Konsensdemokratie der ›Volksparteien‹ eine exklusive Sozialintegration zulasten Dritter (in Deutschland selbst, in Europa und der Welt) ermöglichte«, anachronistisch geworden ist: weder fortsetzbar noch verallgemeinerbar aus planetaren Gründen.
Davon abzusehen nennt Lessenich eine »Vernebelungstaktik«, die aber »auf ihre Weise rational« ist, »indem sie es Politik, Ökonomie und Zivilgesellschaft ermöglicht, auch im Angesicht multipler Abgründe an ihren eingeübten Handlungsmustern festzuhalten«. Erleichtert wird das durch eine über Jahrzehnte erfolgreiche Zurichtung, deren Subjekte es »tunlichst vermieden, sich über die Voraussetzungen und Konsequenzen der eigenen Lebensführung und der kollektiven Lebensform, in die diese eingebettet ist, aufzuklären«. Und verstärkt wird diese individuelle wie gesellschaftliche Selbstfesselung dadurch, weil für den Alltagsverstand nachvollziehbare, als um- und durchsetzbar erkennbare Alternativen fehlen, die der Größe der Herausforderung angemessen sind und die »Unausweichlichkeit von Veränderungen« ertragbar machen. Lessenich: »De-Realisiert« sind »nicht nur das Gegebene, sondern auch das Mögliche«.
#3 In Lessenichs Perspektive ist »Autoritäre Entwirklichung« das »Opium einer Gesellschaft, die von den anstehenden Umbrüchen ebenso wenig wissen will wie von den schmerzhaften Umordnungen, die notwendig wären, um ihre Reproduktion auf eine weniger zerstörerische – und damit auch weniger selbstdestruktive – Weise zu organisieren«. Solcherlei »Selbstaufklärung der Gesellschaft über ihre nicht realisierten, aber realisierbaren Möglichkeiten« müsste also an mindestens drei Punkten ansetzen: dass es a/ so nicht weitergehen kann, dass wir b/ im Grunde nicht wissen, wie es anders weitergehen könnte – und dass »wir« c/ selbst bis zum Hals in dieser einerseits objektiv verunmöglichten, andererseits gesellschaftlich betoniert erscheinenden Wirklichkeit feststecken.
Der berechtigte Hinweis darauf, dass es strukturelle Voraussetzungen und politisch gemachte Möglichkeitsräume individuellen Verhaltens gibt, ändert nichts an der Tatsache, dass wir »Subjekte der ökologischen Verwüstung« sind. Mit diesen hatte sich vor knapp anderthalb Jahren ein Workshop an Lessenichs Institut für Sozialforschung beschäftigt, in dem es zugleich um die Tragfähigkeit der Konzepte der frühen Kritischen Theorie in planetaren Zeiten ging. Abhängigkeit und Abwehr, Naturbegriff und gesellschaftliche Psychedimensionen, ökologische Sozialcharakterologie und Klassenbegriff… hier gibt es einen recht ausführlichen Bericht von der Tagung.
Unter anderem wird auf erste Forschungsergebnisse von Julian Niederhauser verwiesen (»Der potenzielle Fossil-Faschist«), in dem es um Reaktion auf die Klimakrise geht, »die klassische Momente autoritärer Charakterstrukturen mit einer ›Lust an der ökologischen Destruktion‹ verbinden, in der die eigene Lebensführung in Abgrenzung zu Nachhaltigkeit, die mit Verwirklichung assoziiert werde, performativ um ›Autos, Ruß und Schlamm, Bier, Fleisch, Party‹ gebaut wird«. Fossile Energie werde »zum Symbol einer angeblich gefährdeten Lebensweise«, die »um das Bild des potenten, die Natur beherrschenden (und freilich männlichen) Subjekts gebaut ist«.
#4 Während der Sammelband zum Workshop erst noch bei Campus erscheinen soll, finden sich Aspekte eines solchen »klimarebellischen Einstellungssyndroms« auch in den Typologien wieder, von denen in Carolin Amlingers und Oliver Nachtweys »Zerstörungslust« die Rede ist. Jene beschreiben die beiden darin als die verbindende Klammer auf einer mehrspurigen Autobahn der Radikalisierung: »Aus einem demokratischen Nihilismus heraus will man die liberale Demokratie im Namen des Besitzindividualismus abwickeln. Die entsprechenden Affektstrukturen dichten sich gegen Solidarität ab und projizieren Probleme auf Migrant:innen oder soziale Minderheiten.« Diese »Destruktivität ist jedoch nicht universell, schließlich findet sie im Rahmen der radikalen Identifikation mit kapitalistischen Hierarchien statt. Die Abwehr des Wandels wird zur Affirmation eines Status quo ante – in Form einer aggressiven Nostalgie für eine Gesellschaft, in der vermeintlich alles ›noch in Ordnung‹ war« – »eine Rebellion gegen Anpassungen und Einschränkungen, die mit Modernisierungen einhergehen und die der Klimawandel notwendig macht. Bevor man sich anpasst, zerstört man lieber die Dämme gegen die Sintflut.« Lessenichs (allgemeine) De-Realisierung des Möglichen wird bei Amlinger und Nachtwey mit einem Benjamin-Zitat von 1931 auf den destruktiven Charakter konkretisiert: Diesem »schwebt kein Bild vor. Er hat wenig Bedürfnisse, und das wäre sein geringstes: zu wissen, was an Stelle des Zerstörten tritt.«
Die »Zerstörungslust« ist also als eine doppelte aufzugreifen: Einerseits geht es ihr darum, wie Nachtwey sagt, »die Institutionen des liberalen Rechtsstaates nicht verändern oder schwächen, sondern beseitigen, also zerstören (zu) wollen. Und dies oft mit unverhohlener Lust«. Eine Form von »Zerstörungslust« findet sich aber auch abseits der »autoritären Mentalitäten« und jenes als Rebellion getarnten reaktionären Konformismus’, der den Fossilismus als angeblich gefährdete Lebensweise übersteigert internalisiert und symbolisch aggressiv ausagiert. »Lust an der ökologischen Destruktion« ließe sich auch als Aspekt eines »Normalzustands« auffassen: unsere eigene Verstricktheit in eine Reproduktionsweise beschreibend, die eine Befriedigung von Bedürfnissen verspricht, deren Legitimität sich leichter rational infrage stellen als praktisch und kollektiv überwinden lässt.
Denn eine unausgesprochene Pointe von Amlingers und Nachtweys Buch ist ja: Der destruktive Charakter ist vor allem Produkt »stagnierenden oder gar rückläufigen Wachstums«. Der Einzelne sieht sich abgekoppelt von den aus diesem Wachstum hervorgehenden, eingeübten Vorteilen des fossilistischen Modus’ sozialer Integration im demokratischen Kapitalismus sieht – Aufstieg, Ausweitung des Konsums und so fort. Deshalb »richten sich die Angriffe nun zunehmend gegen andere: Man möchte anderen schaden, um selbst keinen Schaden zu erleiden. In einer nachmodernen Ordnung, in der wenige die großen Gewinne unter sich aufteilen und in politische Macht konvertieren, wird der Kampf um die Reste umso verbissener.« (Amlinger, Nachtwey)
Wenn aber so genanntes Wirtschaftswachstum und die strukturellen Steigerungslogiken unvereinbar mit den planetaren Grenzen geworden sind (und sich die »ökologische Modernisierung« auf gleicher Grundlage als Illusion erwiesen hat), ist eine Rückkehr in irgendeinen angeblich besseren früheren Zustand unmöglich geworden. Was soll da noch der doppelten Zerstörungslust Einhalt gebieten?
#5 Vielleicht Vertrauen. In der Diskussion über das, was als »Rechtsruck« bezeichnet wird, spielten Misstrauen oder »die Unfähigkeit zu vertrauen« zuletzt eine wachsende Rolle. Robert Misik hat sie dennoch »bis heute eine eher unterbelichtete Sache in der Gesellschaftsanalyse« genannt: »Die Rohheit, die unsere Gesellschaft durchzieht, ist ohne den misstrauischen Charaktertypus nicht zu erklären. Hypersensible Wachsamkeit, die ständige Bereitschaft, überall Feinde zu wittern, den Betrug auszumachen, sie zeichnet diese unangenehmen Zeitgenossen aus, denen bei der geringsten Gelegenheit schon die Hutschnur reißt, diese aufbrausenden, rigiden, manchmal besserwisserischen, stets konfrontativen Typen«. Auch Torben Lütjen hat vorgeschlagen, dieser widersprüchlichen Eigenschaft des modernen Rechtspopulismus mehr Aufmerksamkeit zu schenken: das für ihn konstitutive Element des Misstrauens (das »sich mit autoritärem Denken nicht besonders gut verträgt«). Isabel Thielmann und Benjamin Hilbig haben »das dispositionelle Misstrauen« untersucht, es handele sich nicht nur um »ein Misstrauen auf rein interpersoneller Ebene, sondern umfasst ein Misstrauen in die Gesellschaft und die Welt im Allgemeinen«.
Hans-Jürgen Wirth unterstreicht aus psychoanalytischer Perspektive ebenso, »dass der Populismus ganz wesentlich durch feindselige Affekte motiviert ist«, zu denen wesentlich Misstrauen gehört. Und demnächst erscheint Aladin El-Mafaalanis »Misstrauensgemeinschaften«, in dem es um destruktives Misstrauen geht, dessen Träger sich heute schnell zusammenfinden: »In Krisen ist die Gesellschaft auf Vertrauen angewiesen. Es ist anzunehmen, dass sich bei einer kommenden großen Krise (…) das Misstrauen deutlich stärker ausdrücken und die Krise dadurch einen problematischeren und noch polarisierteren Verlauf annehmen wird.«
Diese Krise kommt nicht, sie ist längst da. Zu ihren sozialen Kerneigenschaften gehört, dass der »Unausweichlichkeit von Veränderungen« eine den Boden unter den Füßen wegziehende Tatsache gegenübersteht: mangelndes Vertrauen darin, dass diese Veränderungen tatsächlich funktionieren, gegen starke Interessen durchsetzbar und in komplexen Gesellschaften umsetzbar sind – dass sie das Problem wirklich lösen. Dazu noch einmal der Hinweis auf einen schon etwas älteren Vortrag von Jan Philipp Reemtsma: Neben personalem und institutionellen Vertrauen beschreibt er darin eine dritte Dimension, »eine Stufe höher angesiedelt, es schließt personales und institutionelles Vertrauen mit ein, ist aber nicht einfach eine Kombination dieser Faktoren«. Dieses soziale Vertrauen habe nichts »mit Sich-Wohlfühlen, einem Gefühl gemeinsamer Nähe oder etwas Ähnlichem zu tun«, es sei vielmehr die »uns allen eigene Unterstellung, dass ›es so weitergeht‹«, die dem eigenen Gesellschaftlichsein vorausgesetzte, es erst ermöglichende Annahme »einer gewissen Regelmäßigkeit des sozialen Lebens«, die unseren Routinen eine Grundlage gibt: »Routinen zu folgen, bedeutet, immer ungefähr zu wissen, was man als Nächstes tun soll beziehungsweise tun wird – genauer gesagt: es nicht bewusst zu wissen, sondern es einfach zu tun.« Reemtsma schlägt vor, Gesellschaft als »ein großes Signalsystem« zu verstehen, »in dem dauernd jeder und jede einander versichert: Es geht weiter! Du darfst deinen Routinen folgen! Es wird dauernd, mit jeder Handlung, mit jedem kommunikativen Akt signalisiert, dass Normalität herrscht, das heißt dass man ein ungeheures Maß an Möglichem nicht in Betracht ziehen muss.«
Könnte es also sein, dass »die Leute verrückt« werden, weil ihr soziales Vertrauen im Sinne Reemtsma erodiert? Und wie lässt sich neues soziales Vertrauen schaffen, das auf Lessenichs »nicht realisierten, aber realisierbaren Möglichkeiten« der Gesellschaft gründet? Diese, und das ist die Schwierigkeit, dürfte nur dann als eine andere und bessere gelten können, wenn sie nicht doch wieder die eine oder andere Zerstörungslust weckt. Wie kommt man da hin, weg von der autoritären Entwirklichung – hin zur, nennen wir es: kollektiven und solidarischen Ver-Wirklichung? (tos)