Klimanotizen 74
Wunschdenken, Ignoranz, falscher Denkrahmen: Wirtschaftsministerin Reiche hat den Bericht zur Energiewende vorgestellt. Vom Monitoring nicht gedeckt, bleibt sie auf anachronistischem Kurs, der eine zentrale programmatische Leerstelle der Konservativen verkörpert.
#1 Lange erwartet - oder sagen wir besser: befürchtet worden war der Monitoring-Bericht zur Energiewende. Das hat etwas mit der zuständigen Ministerin zu tun, deren Vorgeschichte und Äußerungen Anlass zu der Sorge gaben, sie wolle »die Axt an die Energiewende« legen. Das hatte auch etwas zu tun mit dem beauftragten Institut, das »in der Vergangenheit unter anderem von den Energiekonzernen Eon und RWE finanziert« worden war und auf das ein Teil der Energieindustrie »weiterhin Einfluss« habe. Auch die Kommunikation über den Stand der Fertigstellung des Berichts seitens einer Regierung, deren führende Partei so gern wie maßgeblich durch kulturkämpferische Aufladung (»Heizhammer«, »grüne Verbotspartei«) zur Blockierung der Transformationskonflikte beiträgt, befeuerte Befürchtungen.
»Ende des Sommers«, »nächste Woche«… In den Tagesvorschauen der Agenturen für Montag war der Monitoring-Bericht zur Energiewende immer noch nicht aufgetaucht, bis dann »spontan« am Morgen zu einer Pressekonferenz zwei Stunden später geladen wurde. Wusste das Ressort von Katharina Reiche bis halb neun nicht, dass der weithin als wichtig, wegweisend und maßgeblich für den weiteren Kurs der Energiewende-Politik der Regierung angesehene Bericht fertig ist? Oder suchte man den Windschatten der Berichterstattung über den Ausgang der Kommunalwahlen in NRW, die erwartungsgemäß den Wochenanfang dominierten?
#2 Der Monitoring-Bericht sei »weitaus weniger kritisch ausgefallen als im Vorfeld von vielen Akteuren erwartet wurde«, bilanziert Malte Kreutzfeldt bei table: »Wir sagen, es braucht weiterhin signifikanten Zubau Erneuerbarer und signifikanten Zubau in den Netzen, aber wir müssen das alles ein bisschen intelligenter machen.« Reiche hielt das allerdings nicht davon ab, weiter von Neuausrichtung und Scheideweg zu unken. Ob sie die Expertise nicht gelesen habe oder »ihre eigenen Gutachter so offensichtlich ignoriert«, fragten sich dann nicht nur ökologische Kampagnenorganisationen; der Bericht sei eine »Ohrfeige« für Reiche, »die größte Zweiflerin an der Energiewende«. Monatelang habe die Ministerin »insinuiert, dass sie in der Energiepolitik alles anders machen muss«, das lasse sich im Lichte der Ausführungen überhaupt nicht halten, seitens grüner Politik wurde gar für die »vielen differenzierten Vorschläge für eine günstige grüne Energieversorgung« gedankt. Bei den Klimareportern ist das Wichtigste zusammengefasst: »Das lang erwartete Monitoring liefert eine ganze Reihe von Hinweisen, wo es bei der Energiewende hakt und was für mehr Effizienz und Klimaschutz getan werden kann.« Der Bau von Gaskraftwerken wie von Reiche angestrebt gehöre nicht dazu. Dennoch fürchtet etwa die Umwelthilfe weiter, dass Reiches »Planungsrealismus« faktisch zu einer »Ausbau-Bremse für die Erneuerbaren« und der »technologieoffene Kapazitätsmarkt« zum »Einfallstor für neue fossile Abhängigkeiten« werde. Bericht wie auch Reiches Auslegung wurden in den Reaktionen der Kapitalverbände entsprechend ihrer Position entlang der planetaren Konfliktachse unterschiedlich akzentuiert - etwa hier und hier. Einzelne Aspekte wie die neuen Zahlen zur Strombedarfsprognose werden hier und hier näher behandelt; das von Reiche gewollte Aus für die Einspeisevergütung hier.
#3 »In der Bundesregierung bleibt die künftige Ausrichtung der Energiewende auch nach einem mit Spannung erwarteten Monitoring-Bericht weiter unklar«, bilanziert Reuters nach Reiches Auftritt, was nicht nur mit dem Widerspruch von Klimaminister Schneider hinsichtlich des Strombedarfs zu tun hat. Susanne Götze analysiert hier das gegenwärtige Agieren der Bundesregierung (und anderer Staaten) gegen das europäische Klimaziel. In den Bewertungen der Zeitungen kommt Reiche überwiegend schlecht weg: Es drohe nun eine »Reiche-Lücke« beim Umbau des Energiesystems, weil die Politik der Ministerin »zentrale Weichenstellungen verzögert, den Zubau von Wind und Sonne drosselt und zugleich Milliarden in neue fossile Strukturen lenkt«, meint die FR. »Den Fokus auf Gaskraftwerke zu legen und dort CCS-Technik zum Abscheiden und Speichern von CO2 zu ermöglichen, wie es Reiche vorhat«, warnt die »Rheinpfalz«, wäre »verheerend«. Der Ministerin »Phrase erinnert an den schönen Satz ›Der Weg ist das Ziel‹. Dabei muss man jedoch aufpassen, dass das ursprüngliche Ziel unterwegs nicht verloren geht«, schreibt die TAZ. »Jene, die sich in den vergangenen Monaten sicher waren, was der Monitoring-Bericht bringen würde, lagen in Teilen falsch. Aber das sagt weniger über die Kritiker aus als über Reiche, die mit ihren Aussagen Befürchtungen schürte und die Stoßrichtung der Debatte vorgab«, heißt es in der »Zeit«. Reiche nutze nun »den Report, um eine Energiepolitik zu begründen, die aus der Zeit gefallen ist«, kritisiert der »Spiegel«. »Die Energiewende, das gerät gern in Vergessenheit, gleicht dem Wechsel der Pferde bei voller Fahrt«, so die »Süddeutsche«. Dieser »Wechsel von der einen zur anderen Welt ist eine Kunst, die in Deutschland bisher sensationell reibungslos gelungen ist. Nur ist es mit dem Bau vieler Tausend Windräder und Millionen von Solarzellen nicht getan. Es muss auch das passende Stromsystem aus Netzen, Speichern, Reserven geben. Das fehlt noch.« Reiche setze »den künftigen Strombedarf niedrig an, um die Ausbauziele schönzurechnen. Sie verengt den Blick auf vermeintliche Versorgungslücken, die dann mit fossilen Kraftwerken gedeckt werden sollen«, kommentieren die Klimareporter.
#4 Das Lager der Beharrungskräfte meldet sich ebenfalls zu Wort, dieses dreht sich dann immer wieder um das Argument der Bezahlbarkeit. »Es geht darum, ihre Kosten stärker in den Blick zu nehmen. Diese stellen nicht nur eine Belastung für Verbraucher dar, sie sind auch eine der Ursachen für die Schrumpfung der Industrie«, heißt es zum Beispiel in der in der Braunkohleregion um Cottbus erscheinenden »Lausitzer Rundschau«. In der FAZ liest man, es dränge »sich der Eindruck auf, dass dieser Bericht und auch Reiches daraus abgeleiteter Zehn-Punkte-Plan geschrieben wurden, um der Regierung Zeit zu verschaffen, bevor sie Entscheidungen treffen muss.« Erwarten tut das Blatt aber wenig: Auch die Ministerin mache »keinen Hehl daraus, dass die Strompreise in Deutschland selbst mit einem besser abgestimmten System höher bleiben werden als in anderen Ländern. Am Grundproblem in Deutschland kann auch der Bericht nichts ändern: Es war ein Fehler, in einem Industrieland mit schwankender Wind- und Sonnenleistung zum Erreichen der Klimaziele ganz auf Erneuerbare zu setzen. Auch wenn sie jetzt ein wenig günstiger werden sollte – teuer bleibt die Energiewende in jedem Fall.«
#5 »Was kostet die Energiewende?«, so hat auch Greenpeace die politische Engführung im Denken von Wirtschaftsministerin Reiche auf den Punkt gebracht. Ob aber etwas »teuer« ist, lässt sich nur im Vergleich erschließen. Die mutwilligen Verzögerungen beim energiepolitischen Umsteuern, ob nun in der Vergangenheit oder jetzt durch Reiches Kurs, »kosten« ja auch etwas, unter anderem »die Wirtschaft«. Eine aktuelle Studie rechnet »mit geschätzten Verlusten von 43 Milliarden Euro allein im Jahr 2025 und insgesamt 126 Milliarden Euro bis 2029« in Europa allein durch extreme Wetterereignisse. Welche Rolle die Emissionen der fossilen Industrie spielen, darüber gibt ebenfalls aktuell eine neue Attributionsstudie Auskunft, hier werden die Ergebnisse fachwissenschaftlich diskutiert. Schäden in der Natur selbst sind da nicht einberechnet, sie entziehen sich auch jedem Preisschild. Wäre das nicht gerade ein Thema für »konservative« Parteien, Bewahrung der Schöpfung und so? Die CDU, so hat der Politikwissenschaftler Thomas Biebricher heute in der SZ den Blick über den Ausgang der Kommunalwahlen hinaus erweitert, habe sich »in den Jahren der Opposition lange in der Behauptung eingerichtet, dass niemand in irgendeiner Weise sein Leben verändern müsse, dass Verzicht überflüssig sei. Den Grünen hat man ein Bevormundungs-Label angehängt und sich selbst als die Partei inszeniert, die dafür sorgt, dass sich nichts ändert und, salopp gesagt, alle machen können, was sie wollen. Das macht es natürlich schwierig, jetzt die nötigen, anstrengenden Transformationsprozesse zu gestalten. Stattdessen rettet man sich in eine Art Wunschdenken, dass Marktkräfte plus Technologie es schon richten werden.« Hauptsache es stimmt der Preis! Aber für wen? Und wer bezahlt wirklich? Und müsste dann, besieht man die Sache so, nicht alles anders werden?
Solche Fragen wollen Reiche und Co. in ihrem anachronistisch gewordenen Rahmen gar nicht denken. Ob es schon eine ausreichende Erklärung ist, den fossilistischen Selbstzerstörungskurs mit der Angst vor der Reaktion von Wählerinnen zu begründen, die man vorher ausführlich zu ihrer Abwehrhaltung angestachelt hat, ist eine gute Frage. Wer noch Hoffnung auf Umdenken hat, wird es vielleicht wie Lenz Jacobsen und Bernd Ulrich sehen: »Es könnte ja auch sein, dass die Reaktanz sich nicht in erster Linie aus der vermeintlichen Arroganz, dem Gängel-Bedürfnis und der ideologischen Verbohrtheit der Linken, Grünen und Sozialdemokraten erklärt, sondern aus der Wucht der Probleme selbst. Und aus dem leeren Versprechen der etablierten Politik, für diese Probleme Lösungen zu liefern, ohne dabei den Bürgern irgendwie auf den Nerv zu gehen. Eigentlich müsste die siegreiche konservative Mitte nun endlich einmal sagen, was sie mit ihrem Sieg anzufangen gedenkt. Oder hat man wirklich gedacht, wenn die Macht der Linken abnimmt, wird auch die Wucht der Probleme weichen? Der Vibe Shift ist vollzogen, aber der Responsibility Shift bleibt aus.«