Klimanotizen 73
Sind die Linken selber schuld am Aufstieg der Rechten, fragt ein Wochenblatt. »Vibe-Shift« und so. Ein paar Anmerkungen über wackelige Konstruktionen zur Mehrung der Markenbeachtung, gute Antworten auf blöde Fragen – und ein alles überragendes Überlebensthema, das nur am Rande zur Sprache kommt.
#1 Wo stehen wir? Staunend am Zeitungskiosk, wo ein Wochenblatt mit der Frage »Sind die Linken selber Schuld?« aufmacht. Woran? »Am Aufstieg der Rechten«. Nun ist es ja nicht so, dass eine solche Frage völlig abwegig wäre. Je nach dem, wen man zu den Linken rechnet; abhängig davon, welche sichtbaren oder verborgenen Mechanismen man zwischen politischem Handeln, Reaktionen der Konkurrenz und Einstellungen der Bevölkerung in Betracht zieht; unter der Maßgabe, die Suche nach Antworten an geeigneten Kriterien und Begriffen auszurichten sowie unterschiedliche Dimensionen miteinander in Beziehung zu setzen, ökonomische Interessen etwa – kann man da zu mehr oder weniger hilfreichen Antworten kommen. Wenn man aber, wie nämliche Wochenzeitung, das Ganze an drei, zurückhaltend formuliert: wackeligen Konstruktionen aufhängt, kann dann etwas dabei herauskommen?
#2 Erstens: Der »Themenschwerpunkt« ist um die Pseudotheorie vom »Vibe-Shift« errichtet – dazu haben Doris Akrap, Quentin Lichtblau oder Florian Hannig schon das Nötige angemerkt. Zweitens strapaziert das Gros der bisher in der »Serie« erschienenen Texte eine nun auch schon seit zehn Jahren (nicht zuletzt bei »den Rechten«) populäre Generalerzählung, laut der »die Linken« (wer genau?) »die Arbeiterklasse« im Stich gelassen, durch wokes Moralisieren vergrault habe und überhaupt, Nancy Fraser darf natürlich nicht fehlen: der »progressive Neoliberalismus«. Weil »die Linke« (wer genau?) den Kapitalismus deregulierte, sich dabei aber, die Konzerne untergehakt, in Regenbogenfahnen hüllte, stehen »die Rechten« heute dicke da. Niemand wird bestreiten, dass zum Beispiel die rot-grünen Reformen der früheren 2000er Jahre politische Folgen hatten (es gründete sich zum Beispiel eine neue linke Partei, aber ok).
Dass sich materielle Zurücksetzung, Verweigerung von Anerkennung, politisch gewollt vergrößerte Ungleichheit in Groll, Ablehnung und Verschiebungen von Einstellungen übersetzen können, gehört ebenfalls zu den herkömmlichen Analyserahmen. Auffällig könnte man aber nennen, was »Die Arbeiter im Stich gelassen«-Motive eher selten begleitet: eine Auseinandersetzung mit empirischen Tatsachen. Welche Tragfähigkeit hat zum Beispiel der Vorwurf, »die Linke« (wer genau?) habe sich zu sehr Themen und Angelegenheiten der höheren Bildungsabschlüsse zugewandt, wenn man den Strukturwandel mit einbezieht, der – angetrieben von früheren Bildungsreformen ebenso wie von den ökonomischen Kräften der Tertiarisierung – den »gesellschaftlichen Gesamtarbeiter« mehr und mehr in Richtung Angestellte, Dienstleistungssektor usw. verwandelt hat, mithin die Menge der früheren Sozialkategorie »Arbeiter« schrumpfte?
Haben vielleicht eher »die Arbeiter« die Bühne verlassen? Was ist das überhaupt für ein Bild von »dem Arbeiter«, dem in diesem Konzept ja stets unterstellt wird, nur an Bockwurst, ausländerfreien Zonen und 100 Jahre alten Rollenbilder interessiert zu sein. Anders herum: Erweitert man den Begriff »der Arbeiter« auf diese »neuen« gesellschaftlichen Dimensionen, vom wachsenden Care-Bereich über das so genannte »Dienstleistungsproletariat« bis hin zu den ökonomisch ziemlich materiell unsicheren Sektoren der Wissensproduktion, lässt sich dann die These des »die Linke« (wer genau?) verlassenen »Arbeiters« noch halten? Wird nicht immer gesagt, »die Linke« werde von besser Gebildeten Menschen aus urbanen Gebieten gewählt, die meist als sozio-kulturelle Experten für eher normale, nicht selten: prekäre Einkommen tätig sind? Da zerfällt der konstruierte Gegensatz doch mehr und mehr (und Thomas Ostemeier, der ihn zunächst ebenfalls strapaziert, meint schließlich ja ganz zu recht, »diversitätspolitische Anliegen und der Kampf um Klassengerechtigkeit« sollten nicht länger gegeneinander ausgespielt werden.)
Oder: Gibt es für die Behauptung, »die Linke« (wer genau?) habe sich programmatisch in Richtung »Wokeness« und »Identitätspolitik« verirrt und die »soziale Frage« hinter sich gelassen, handfeste Belege? Wer zum Beispiel längere Zeit beruflich dazu verurteilt war, die rege Papierproduktion der als links bezeichneten Parteien regelmäßig zur Kenntnis zu nehmen, kann dem schwerlich zustimmen. »Die Linke« zum Beispiel (in diesem Fall die gleichnamige Partei) hat über Jahre in Programm wie Propaganda »soziale Themen« ziemlich stabil hoch und runter gespielt, die ihr geltende Zustimmung sank trotzdem über die Jahre. Bis sie Anfang 2025 mit einem – tja: »identitätspolitischen« Angebot wieder reüssieren konnte, nämlich die letzte Bastion gegen den Rechtsruck zu sein.
Es gibt bestimmt einiges zu entdecken, zum Beispiel beim Manifesto Projekt, das Wahlprogramme untersucht. Was da zum Beispiel über Themenschwerpunkte und Positionierung analysiert wurde, etwa hier oder hier oder hier, sieht jetzt nicht unbedingt danach aus, dass soziale Themen bei »linken Parteien« von Gendersternforderungen beiseite gedrängt worden sind. Ok, sind nur Wahlprogramme, die sind vielleicht unzuverlässig. Aber sind das Aussagen wie die von Iris Berben über »die Linke« (wer genau?) nicht noch viel mehr: »Sie hat wichtige ureigene Themen vernachlässigt wie Wohnungsnot, Ausbildung, Arbeitsplätze, Infrastruktur, Gesundheit und sich stattdessen in Feldern verkämpft, wo ihr die meisten Leute nicht mehr folgen wollten.«
#3 Bevor hier noch drittens aussteht: Natürlich ist nicht alles schlecht, was unter einem Label verkauft werde muss, von dem eine Wochenzeitung annehmen kann, dass es dem Absatz, der Reichweite, der Beachtung dient. Diese Notizen hier sind selbst Beleg dafür, dass das seine Wirkung nicht verfehlt. Und am Ende gilt ja immer noch: Es gibt keine blöden Fragen, sondern nur solche Antworten.
Steffen Mau zum Beispiel gibt eine gute, indem er zurückfragt, ob man nicht mit dem Ganzen »schon einem rechten Motiv auf den Leim« gehe, »das den Linken Schuld an allem gibt, sogar an den eigenen Erfolgen?« Und der dann auf einen Punkt zu sprechen kommt, der im Grunde viel interessanter ist und auch viel besorgniserregender: Hat »die Linke« (wer genau?) eigentlich ausreichend Problemlösungskompetenz? »Echte«, könnte man hier hinzufügen – was hieße, dass die jeweiligen Veränderungsziele den Problemen gegenüber angemessen sind; dass es für die Lösung der Durchsetzungs- und Umsetzungsfragen hinreichende Ideen gibt; dass auftretende Widersprüche zwischen normativen Ansprüchen und politischen Handlungsfeld (etwa: nationaler Wohlfahrtsstaat versus globale Gleichheit) mitgedacht und mitbearbeitet werden.
#4 Womit wir bei dem sind, was am »Themenschwerpunkt« am meisten auffällt, weil es praktisch gar keine Rolle spielt: die Klimakrise, die ökologische Frage, das planetare Riesenproblem. Allenfalls taucht, was den übergeordneten Bezugsrahmen darstellen müsste, am Rande auf. Bei Jens Jessen etwa, der sich in einem, sorry, etwas wirr erscheinenden, um »die Mitte« besorgten Text »einen Moment von der Frage lösen« möchte, »wie berechtigt die linken Forderungen nach Wokeness, klimabewusstem Konsumverhalten und so weiter wirklich sind. Gänzlich unberechtigt sind sie gewiss nicht.« Die sich zuspitzende Überlebensfrage ist also nicht gänzlich unberechtigt, liegt aber irgendwie störend herum in der »Wokeness«-Schublade und wird gegen eine Vorstellung von »der Arbeiter« verteidigt, bei der immer auch die Hoffnung mitschwingt, er könne doch noch das historische Subjekt werden, als das er immer angerufen wird. Dabei wird womöglich nicht hinreichend berücksichtigt, dass »der Arbeiter« seit 100 Jahren immer mehr auch zum Konsument wurde – mit allen Begleiterscheinungen, die Begriff »Verbraucher« für ihn/sie in planetarer Hinsicht zu dem treffendsten macht.
Oder Eva Illouz, die »der Linken« (wer genau?) empfiehlt, ihre Identität neu zu erfinden, »will sie weiterhin Motor gesellschaftlichen Fortschritts bleiben«: »im Kampf gegen die wachsenden Ungleichheiten der letzten Jahrzehnte, gegen die ungebändigte Macht der Tech-Giganten und die Aushöhlung des öffentlichen Diskurses, für eine Humanität, die auch den Gefahren der künstlichen Intelligenz standhält. Nur so lässt sich der Faden wieder aufnehmen, den die Linke einst spann: Fortschritt für alle.« Nichts gegen die aufgezählten Anliegen, aber kann man im Jahr 2025 noch über »Fortschritt« sprechen, ohne die Frage danach aufzuwerfen, wie dieser innerhalb planetarer Grenzen ins Werk gesetzt werden kann? Oder ob überhaupt?
Vielleicht ist »die Linke« derzeit ja so schwach, weil die große Mehrheit längst ahnt, dass die zu verteidigenden Aspekte bisherigen Fortschritts mit der Bewohnbarkeit des Planeten nicht länger vereinbar sind; dass also etwas geschehen müsste, das die bisherigen Vorstellungen unter anderem von Wohlstand hinter sich lässt; dass der zentrale Modus sozialer Integration in der Petromoderne, die Verteilung von immer weiter gesteigerten, fossil angetriebenen Wachstumsanteilen, keine Zukunft mehr hat – nicht einmal dann, wenn man sich auf den Inseln des früheren »Glücks«, also im globalen Norden, gegen die Folgen verbarrikadieren möchte, die aus der Auszehrung des Planeten und der menschlichen Arbeitskraft im globalen Süden stammen.
»Die Linke« (wer genau?) adressiert das zwar hier und da, kann aber mit ihren, so sie denn formuliert werden, Vorstellungen für eine Zukunft innerhalb planetarer Grenzen offenbar nicht überzeugen. Man wird ja selbst ganz kirre angesichts der schier unüberwindlichen Hürden, die sich da auftürmen: Wie soll so eine Welt aussehen, in der wir irgendwann in den klimatisch sicheren Bereich zurückkehren können, in der wir aber auf lange Zeit mit den gravierenden Veränderungen konfrontiert sein werden, die aus unserer eigenen fossilistischen Vergangenheit rühren? Welcher Gestalt werden die neuen sozialen und kulturellen Reproduktionsweisen sein müssen, die sich von den zerstörerischen Steigerungsdynamiken ablösen? Wie sehen die neuen »menschlichen Maße« aus, was macht das mit der Arbeit, der Produktion und wie definieren wir ganz neue große Ziele wie etwa jenes, den Planeten wiederherzustellen? Haben wir dazu die Ressourcen – oder müssen wir abwägen, weil eigentlich alle für Maßnahmen der Anpassung eingesetzt werden müssen? Und überhaupt: Wie soll man das alles innerhalb von Zeitfristen erreichen, die nicht mehr allein menschlich definiert sind, sondern planetar, von der Physik der Erde mitbestimmt?
#5 In solchen Fragen könnte eine Spur aufgenommen werden, wenn man die Antwort darauf sucht, ob »die Linken« (wer genau?) irgendwas mit dem »Aufstieg der Rechten« zu tun haben. Vielleicht könnte eine (neben anderen) Erklärung so formuliert werden:
Der Aufstieg von radikal nationalistischen Parteien (das sind sie im Kern) bzw. die opportunistische Verwandlung anderer in diese Richtung hat ihren Kern darin in einer wohlstandschauvinistischen Abwehr jener Veränderungen, welche aufgrund der planetaren Krise immer dringender werden. Das erhöht einerseits den Lösungsdruck (weil es immer irgendeine FDP gibt, die alles blockiert, weshalb für die Lösungen dann weniger Zeit ist), damit wachsen zugleich aber auch die Verlusterwartungen und Verunsicherung – was wiederum Parolen attraktiver macht, die ein Weiter-so in der nationalen Wagenburg versprechen oder sich ein besseres Gestern halluzinieren, zu der man heutige Bedrohungen erfindet: die Migranten, die Grünen usw. Dabei treiben sich Parteien gegenseitig voran, die Transformationskonflikte als Kulturkämpfe aufladend, verstärkt durch technologisch angetriebene Affektisierung, den politischen Wettbewerb in eine Konkurrenz der Bewirtschaftung von Wut verwandelnd.
Eine große, eher stille und unzulänglich beachtete Mehrheit wird davon mit erfasst – auch jene, die den Graben zwischen (individuellem) Ändern-Wollen und (gesellschaftlich ermöglichtem) Ändern-Können gern überwinden wollen, die also gewissermaßen eine »planetare Erwartung« an »die Politik« haben. Diese Erwartung wird immer wieder enttäuscht (Hallo »Große Koalition«!), was erneut mangelnde Planbarkeit des eigenen Lebens verschärft, soziale aber auch kulturelle Unsicherheit schürt und so individuelle Verdrängung bestärkt. Dies umso mehr, als dass es ja bei dem, was auch die letzte Bundestagswahl verdrängt hat, nicht nur abstrakt um Produktions- und Konsumverhältnisse geht, sondern um den eigenen Alltag, das Gewöhnte, das Selbst: Mobilität, Ernährung, Wohnen, Arbeit. Die Tendenz zur Individualisierung in modernen, kapitalistischen Gesellschaften, in denen Selbstausdruck und Freiheitserfahrung viel mit symbolischem Konsum, materieller Distinktion zu tun haben, gehört zu den Faktoren, die das subjektive Erleben dieser blockierten Transformationskonflikte außerdem beeinflusst.
»Die Linken« (wer genau?) werden in dieser Situation nicht als in der Lage angesehen, diese Blockaden zu lösen. Das hat weniger damit zu tun, was Menschen von den Forderungen oder Vorstellungen dieser Parteien halten. Sondern damit, dass es im Alltagsverstand für unglaubwürdig oder unwahrscheinlich gehalten wird, dass damit wirklich »die Gesamtscheiße« (Marx) auf einen Weg gebracht werden kann, der die oben beschriebenen Fragen praktisch löst. Drastische Besteuerung der Superreichen, ok Linkspartei – aber reicht das und für was? Ein Update für die sozial-ökologische Marktwirtschaft, ok Grüne – aber mit der sind wir bisher doch auch nicht schnell genug aus der Zone der Selbstverbrennung gekommen? Und tja, SPD, ihr wollt nicht mehr so viele Plastikwörter benutzen, weil die Leute… aber wie geht es mit der Plastikproduktion weiter, der echten, der mit Erdöl?
Jessen empfiehlt am Ende »der Linken« (wer genau?) »etwas mehr Marxismus als Poststrukturalismus, mehr Rosa Luxemburg als Judith Butler«. Naja, lesen schadet nie. Mindestens zur Ergänzung sei aber hier noch einmal gesagt, was dort schon gestanden hat: Nötig wäre also ein Paradigmenwechsel, der auf das reagiert, was unter anderem Frank Adloff so beschreibt: »Die Menschheit befindet sich historisch in einer neuen Zeitordnung«, sie »steht vor einer fundamentalen Dezentrierungsaufgabe, um das Leben auf dem Planeten Erde zu erhalten – und damit auch sich selbst.« Sich allein auf die sozialen Konstellationen innerhalb menschlicher Gesellschaften zu konzentrieren, reicht einfach nicht mehr, wenn das implizite Naturverständnis, das »auf der Vorstellung einer stabilen Natur« beruhte, »vor deren Hintergrund sich die menschlichen Aktivitäten abspielen«, nicht mehr gegeben ist: »Der Hintergrund wird zum volatilen Vordergrund – mit der derzeitig zu beobachtenden Konsequenz, dass sich Natur in manchen Hinsichten heute schneller verändert als Gesellschaften es tun«.
Die Linken (alle) müssen sich beeilen.