Klimanotizen 72
Chemie, Wohlstand, Schönheit? Der Abfall der Zivilisation kehrt als Plastikmüll in uns zurück – beim Essen, beim Atmen. Über Detox-Illusionen, den »zweiten Körper«, das schwierige Reden übers Wetter in Zeiten der Klimakrise und die Erosion des Naturwissens.
#1 Wo stehen wir? Auf einem Planeten voller Plastikmüll. Weil gerade eine Konferenz ist, ist das Thema für ein paar Tage etwas präsenter: Rund acht Milliarden Tonnen haben sich in der Umwelt angesammelt, 80 Prozent der Kunststoffe, die jemals produziert wurden. Was einst systemübergreifend »Brot, Wohlstand, Schönheit« versprach, ist zu einer globalen Last geworden, die vollständig abzutragen wohl unmöglich ist, und deren Folgen bisher auch nur zu einem kleinen Teil verstanden wurden. Seit dem Zweiten Weltkrieg ist die weltweite Plastikproduktion um mehr als das 400-fache gestiegen. Seit dieser Woche wird in Genf über ein Abkommen zur Vermeidung der Folgen verhandelt. Aber was bedeutet es, dass wir täglich mehr als 70.000 mikrometergroße Plastikpartikel einatmen? Was bedeutet es, dass die Menge an Nanoplastik in den Meeren unterschätzt wurde? Wie sind die Reduktion fossiler Energieträger und das Anwachsen der Produktionsmengen von Kunststoff über die Umlenkung von Öl in eine ausgeweitete Kunststoff- und Chemikalienherstellung miteinander verkoppelt? Beim Science Media Center gibt es ein Fact Sheet zum Thema, dessen quantitative Dimension man sich bildhaft vielleicht mit diesem Vergleich veranschaulichen kann: Weltweit verklappen wir pro Minute etwa vier Lkw-Ladungen Plastikmüll in Flüsse, Seen und Meere. Aber die Plastikverschmutzung hat eine qualitative Pointe, die auf den Menschen zurückverweist: Wir vermüllen uns selbst. Das falsche Versprechen der Petromoderne, per Kunst- und andere Stoffe die »Umwelt« an uns abperlen zu lassen, liegt unter einem Gebirge aus Sondermüll begraben. Mehr noch: Der Abfall der Zivilisation kehrt in uns zurück – beim Essen, beim Atmen, über die Poren der Haut.
#2 David Wallace-Wells hat in diesem Kontext an Daisy Hildyards Formulierung vom »zweiten Körper« erinnert, jene Dimension unserer Existenz, die in ein weltweites Netzwerk von Ökosystemen eingebettet ist. Als »durchlässiges Wesen« wirke Umweltverschmutzung auf uns »zunehmend wie eine schwere Verletzung«, so Wallace-Wells. Und während die Bereitschaft zu bröckeln scheint, die Ursachen dieser Autoaggression zu verringern, haben Reinigungsfantasien und Entgiftungserzählungen Konjunktur. Der Modus des modernen Menschen nähert sich einer allgemeinen Detox-Illusion. Wenn wir es schon nicht schaffen, »die Natur« zu schützen, können wir uns ja immer noch als »das Andere«, von ihr Getrennte imaginieren und ein »Healthy Life Pack« für 450 Euro bestellen: »that supports every aspect of your well-being«. Gegen Solastalgie, mit der die psychologischen Wirkmechanismen zwischen der Klimakrise und ihren mentalen Folgen beschrieben werden, gibt es sicher auch bald ein Medikament. Dagegen spricht für sich genommen nichts, weil psychische Belastungen durch Umweltveränderungen ein reales, individuelles Leiden sein können. Aber auch die solastalgische Pointe verweist auf unsere Eingebundenheit in diese Mitwelt. Wie wir in sie hinein handeln, wirkt sie auf uns zurück.
#3 Apropos: Laut einer Studie könnte der Rhein sich bis 2100 um bis zu 4,2 Grad erhitzen. Das wird ökologische Schäden verursachen, etwa die Verringerung des den Wassertieren zur Verfügung stehenden Sauerstoffs und Einschränkungen bei der Nutzung des Wassers durch den Menschen. In Deutschland ist die Siedlungs- und Verkehrsfläche von 2020 bis 2023 um durchschnittlich 51 Hektar pro Tag gewuchert, ein Anstieg gegenüber dem Vergleichszeitraum 2019 bis 2022. Die durch die Klimakrise beförderten Waldbrände werden weltweit immer schlimmer und heizen dabei durch hohen CO2-Ausstoß die Klimakrise selber weiter an, haben Forscherinnen erneut bestätigt. 2023 ist bei Waldbränden weltweit eine Menge an Kohlendioxid emittiert worden, die mehr als das Fünfzehnfache der jährlichen Emissionen der Bundesrepublik umfasst. Zudem verlieren Wälder ihre Kapazität als CO2-Senken, wie hier noch einmal zusammengefasst wird: Zwischen 1990 und 2022 hatten sie noch etwa zehn Prozent der EU-Emissionen kompensiert. »Die Rekordhitze in den Meeren könnte Anzeichen eines Kipppunkts sein«, heißt es hier mit Verweis auf neuere Forschung zu den seit zwei Jahren außerordentlich hohen Ozeantemperaturen. Dominik Jung hat sich die »besorgniserregende Entwicklung beim Temperaturanstieg« in Europa angesehen, wo dieser fast doppelt so hoch liegt wie im globalen Durchschnitt: »Die Klimakrise trifft uns nicht irgendwann, sie ist längst da – und sie trifft uns früher und härter als viele andere Regionen.« Auch die Debatte um die Frage geht weiter, ob sich die globale Erwärmung beschleunigt. Dazu hat Zeke Hausfather noch einmal viele Verweise zusammengetragen. Fazit: Ja, es gibt »zunehmend Hinweise auf eine Beschleunigung der Erwärmungsrate«, doch diese stehe »weitgehend im Einklang mit den Prognosen der neuesten Generation von Klimamodellen«. Was alles andere als eine Entwarnung ist. Man kann auch im Einklang mit Prognosen in die Katastrophe rasen.
#4 Auf einer ganz anderen Ebene, jener der alltäglichen Verdrängung, ist man dieser Tage oft mit dem Aggregatzustand »Haha« konfrontiert. Menschen, die sonst viel auf ihre Bildung geben, frohlocken über das regnerische Wetter, das ihnen zum »Argument« im Kulturkampf gegen jegliche klimapolitische Sensibilität gilt. Es hilft dann in der Regel nicht viel, an Tatsachen wie jene zu erinnern, dass warme Luft mehr Wasserdampf aufnehmen kann. Hinweise auf Hitze in Nachbarländern oder auf Temperaturdaten, die über den Erinnerungshorizont von einigen Tagen hinausreichen, wirken in solchen Gesprächen meist wenig. Müssen wir neu lernen, übers Wetter zu reden? Nicht nur hier wird an die 1968 vom SDS gekaperte Plakatkampagne der Bahn erinnert, an die sich im Rückblick einige Pointen kleben lassen. Haha, ausgerechnet die Bahn, die doch heute bei jedem zweiten Nieselregen ihren ohnehin wenig zuverlässigen Betrieb einstellen muss, von wegen alternative Mobilität. Haha, ausgerechnet die Linken, die doch heute mit ihren übertriebenen Temperaturfarben den übermoralischen Wetterbericht im grün-woken Staatsfernsehen zur Volkserziehung missbrauchen. Na ja. Und doch zeigen »die Gereizt- und Unsicherheiten bei Gesprächen über das Wetter« ja etwas an. »Wenn aber der Mensch davon weiß, dass er – wie indirekt auch immer – über das Klima auch das Wetter beeinflusst und just in diesem Moment lieber aufhört, davon zu reden: Was bedeutet das dann?« Appelle, stattdessen das Wetter in einem planetaren Sinne (wieder) zu politisieren, sind nicht neu. Und die Forderung, die alte Parole »Alle Reden vom Wetter. Wir nicht!« vom Kopf auf die Füße zu stellen, ist auch schon vor über drei Jahrzehnten umgesetzt worden: Im 1990er Bundestagswahlkampf plakatierten die (West)Grünen »Alle reden von Deutschland. Wir reden vom Wetter« – und flogen aus dem Bundestag. (Übrigens: Der Song »Wann wird’s mal wieder richtig Sommer«, in dem Rudi Carel 1975 seinen Milchmann über das schlechte Wetter sagen lässt, »Schuld daran ist nur die SPD!«, basiert musikalisch auf »City of New Orleans«, in dem Steve Goodman gegen die Stilllegung von zwei Dritteln der US-Fernbahnstrecken protestierte.)
#5 Noch einmal kurz zurück zum »zweiten Körper«. Bernhard Malkmus lehrt in Oxford Environmental Humanities und geht dort der Frage nach: »Wie verändert sich unser Begriff vom Menschen, wenn wir ihn als das verstehen, was er ist: ein ökologisches Wesen; und welche reflexiven und ästhetischen Ausdrucksmöglichkeiten haben wir für diese Realität?« Es geht dabei nicht nur um Theorie, sondern auch um »kreatives Schreiben, bildnerische Komposition, musikalische Resonanz«, mit denen auch die menschengemachten Verluste »an Natur« zum Ausdruck gebracht werden können. Erst wenn diese spürbar gemacht werden, so lautet eine These, wird Veränderung wahrscheinlicher. Aber was heißt dieses »spürbar machen«? Fakten über die biophysikalische Existenzkrise reichen offenbar nicht. Direkte Betroffenheit von unmittelbaren Konsequenzen, man denke an Extremwetter, scheint auch nur begrenzt wirksam. Malkmus hat in diesem Zusammenhang auf einen sehr interessanten Punkt hingewiesen: Das Wissen um die Natur und »die Fähigkeit, sich in der Natur zurechtzufinden, mit der Natur zu leben, sich als Teil der Natur zu verstehen, ist wirklich in kürzester Zeit erodiert«. Stimmt das? Schon vor 15 Jahren stellte eine Studie über Naturwissen unter Jugendlichen fest, »dass die bereits in den Vorgängerstudien konstatierte Naturdistanz offenbar weiter geht als bislang erkennbar und bereits einfachste Gegebenheiten betrifft«. Malkmus geht es dabei um mehr als abstraktes Wissen, »es muss körperlich werden, es muss sinnlich sein«. Bis hin zur poetischen Erfahrung, die Tiernamen wie »Goldstreifensalamander« geben können, Malkmus spricht von Ein-Wort-Gedichten. Die Pointe geht aber weit darüber hinaus: Wie soll man handlungsmotivierenden Verlust von etwas reflektieren können, von dem man kein kognitives oder körperliches Wissen mehr hat? Was heißt es, wenn wir jetzt Jüngere mit der noch existierenden Vielfalt in wissende Verbindung bringen und ermutigen, »affektiv Beziehungen auszuprägen«, wenn wir zugleich schon davon ausgehen müssen, sie damit in Zukunft bestimmten Verlusterfahrungen auszusetzen? Wie überhaupt lässt sich Sorge und Wissen um Natur und Planeten weitergeben an jene kommenden Generationen, die diese gar nicht mehr in demselben Zustand kennenlernen wie wir? Und wie weit sind wir selbst als »Kinder der Petromoderne« (Petra Ahne) schon davon entfernt, uns selbst den Verlust spürbar machen zu können? Welche Vögel können Sie erkennen, welche Gräser bestimmen, welche Tierarten unterscheiden?