Klimanotizen 69
Viele fragen sich, wird das »ein Jahrhundertsommer«? Dabei brennt schon im Frühjahr die Klimahölle: Rekorde allerorten. Aber ist das überhaupt ein passendes Wort dafür? Was gibt es für neue Studien? Warum nimmt niemand den Fehdehandschuh von Merz auf? Und was erlauben China?
#1 Wo stehen wir? Bei 430.88 ppm Konzentration von Kohlendioxid in der Luft, gemessen am Mittwoch im Mauna Loa Observatory. Vor einem Jahr lag der Wert bei 427.69 ppm. Wie weit diese Maßzahl der Erderhitzung über das als sicher betrachtete Level von etwa 350 ppm hinausschießt, machen auch die Durchschnittswerte für April klar: 429.64 ppm, im Vorjahresmonat waren es 426.51 ppm. Die 350 ppm sind im Weltdurchschnitt übrigens irgendwann Ende der 1980er Jahre überschritten worden. »Wird das ein ›Jahrhundertsommer‹?«, fragt nicht nur diese Zeitung. Aber erst einmal ein Blick aufs Heute: Der Klimatologe Maximiliano Herrera stellt auf diesem Kanal »Extreme Temperatures Around The World« zusammen – ein Schaufenster in die schon real existierende Klimahölle des Frühjahrs. Oder im Kanal von Peter Dynes. »Rekorde« wohin man blickt, was zu der sprachlichen Überlegung einlädt, ob es wirklich sinnvoll ist, planetare Katastrophenziffern als etwas zu bezeichnen, was in den meisten Köpfen als »herausragende Leistung« positiv abgespeichert ist. Die Etymologie hilft ein bisschen: In der Wortgeschichte spielt das altfranzösische »recort« eine Rolle, das auch Zeugenaussage oder Urteil bedeutete. Welches Urteil wird also der kommende Sommer sprechen (nachdem das Frühjahr vielerorts schon seines spricht)? Kombination von Modellen deuten darauf hin, dass es im Schnitt ein bis zwei Grad wärmer wird als in den Sommern zwischen 1993 und 2016 (Copernicus, ähnlich auch der DWD). Dabei gehen wir in diesen Sommer mit einem erheblichen Trockenstress – in den am stärksten betroffenen Regionen ist es trockener als im Dürrejahr 2018. Hier kann man nachlesen, was Expertinnen zur Lage sagen.
#2 Unterdessen geht die Debatte darüber weiter, wie treffsicher die Klimamodelle bisher waren und ob sich die Erdaufhitzung stärker beschleunigt. Wirklich neue Erkenntnisse bringt das derzeit kaum hervor, James Hansen (und andere) sehen eine Beschleunigung, wogegen dann eingewandt wird, dass die tatsächliche Erwärmung im Prognose-Bereich von nahezu allen Modellen vorhergesagt wurde. Michael E. Mann bringt die eigentliche Wahrheit in dem Ganzen auf den Punkt: »Und das ist schlimm genug!« Wie schlimm? Das Kaspische Meer in Zentralasien, größter Binnensee der Welt, schrumpft aufgrund des Klimawandels. Eine Studie zeigt nun, dass der Wasserspiegel selbst bei einer Begrenzung der Erderhitzung auf unter zwei Grad um fünf bis zehn Meter zurückgeht – mit gravierenden Folgen. Eine andere Forschungsarbeit deutet an, dass selbst eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 Grad die polaren Eisschilde nicht mehr retten wird. Folge: Eine Erhöhung des Meeresspiegels um mehrere Meter ist mit dem derzeitigen Stand der Klimakrise wohl nicht mehr zu verhindern: Die Erwärmung lag im Durchschnitt des Jahrzehnts 2014 bis 2023 gegenüber der vorindustriellen Periode bereits bei etwa 1,2 Grad. Ach so: Gegenwärtig leben laut den Angaben rund 230 Millionen Menschen in einem Bereich von weniger als einem Meter über dem Meeresspiegel. Und die Zerstörung tropischer Urwälder ist laut einer Studie auf dem höchsten Stand seit Beginn der Erhebung. Minütlich geht eine Fläche von der Größe von 18 Fußballfeldern verloren, fast die Hälfte durch Waldbrände, die wiederum Milliarden Tonnen CO2 in die Atmosphäre freisetzen: 2024 etwa so viel, wie Indien aufgrund der Nutzung fossiler Brennstoffe emittiert.
#3 Eine Studie unter Beteiligung des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung hat »die bislang umfassendste Verknüpfung des Konzept der planetaren Grenzen, das ursprünglich auf die aktuelle Bestandsaufnahme ausgerichtet war, mit Daten aus modellgestützten Zukunftsszenarien« vorgelegt. Mitautor Johan Rockström meint, man könne damit »klar beziffern, wie gefährlich ein Weiter-so ist, aber ebenso zeigen, dass sich ambitioniertes Umsteuern auszahlt«. Derzeit sind laut PIK sechs der neun biophysikalischen planetaren Grenzen überschritten (Globale Erwärmung, Biosphäre, Entwaldung, Schadstoffe/Plastik, Stickstoffkreisläufe und Süßwasser). Das neue Papier weist nun darauf hin, dass im »Weiter-so-Szenario ohne zusätzliche Politikmaßnahmen bis 2100 eine kontinuierliche Verschlechterung in fast allen Bereichen« zu erwarten wäre. »Um wenigstens bis zum Ende des Jahrhunderts überall aus dem Hochrisikobereich herauszukommen, dafür reicht für sich genommen nicht einmal eine ambitionierte, an maximal 1,5 Grad Erderhitzung ausgerichtete Klimapolitik.« Apropos Politik: Der Expertenrat für Klimafragen sieht nach Prüfung der Daten eine Einhaltung des deutschen Emissionsbudgets bis 2030 als unsicher an, spätestens ab 2030 werden deutliche Zielverfehlungen erwartet. Hier nehmen andere Expertinnen zum Prüfbericht und unter anderem zu den erheblichen Prognose-Unsicherheiten Stellung. Die Lage ist laut Expertenrat dabei »günstiger« als sie zunächst aussieht: Denn »ohne den Puffer, der sich in den Jahren 2021 bis 2024 unter anderem durch Corona und die schwache Wirtschaft aufgebaut hat, wäre bis Ende 2030 mit hoher Wahrscheinlichkeit eine deutliche Budgetüberschreitung zu erwarten gewesen.« Es sei »zum jetzigen Zeitpunkt nicht klar, wie die Bundesregierung das Ziel der Klimaneutralität im Jahr 2045 erreichen will«.
#4 Aber will sie das denn überhaupt? Friedrich Merz versuchte in seiner Regierungserklärung »auch gar kein Zweifel« daran entstehen zu lassen: »An den deutschen, den europäischen und den internationalen Klimazielen halten wir fest. Doch um sie zu erreichen, werden wir auch neue Wege einschlagen.« Was auf diesen neuen Wegen zu erwarten ist, zeigt das Irrlichtern der neuen Wirtschaftsministerin Katharina Reiche, die Wärmepumpen basht und Atomenergie fördert. Damit konsumtive Klientelausgaben möglich werden (Ruhe im Schiff!), will die Regierung Posten aus dem bisherigen Haushalt in den Klima- und Transformationsfonds verschieben und Energiepreissenkungen aus jenem Sondervermögen finanzieren, das eigentlich Investitionen in die Infrastruktur ermöglichen soll. Per Streichung einer Staatssekretär-Stelle wird die Klima-Außenpolitik geschwächt. Aber zurück zu Merz und seiner Regierungserklärung. Horst Kahrs hat hier schon erläutert, dass »der gesellschaftspolitische Fehdehandschuh, den Friedrich Merz in moderatem Ton, aber deutlich zu erkennen, in die Arena des demokratischen Kampfes um die Richtung der gesellschaftlichen Entwicklung progressiver Politik vor die Füße geworfen hat«, links liegen gelassen wurde: die Wohlstandsfrage, die eine Zerstörungsideologie bleibt, solange sie nur aus einem ewigen Wachstum gedacht werden kann. Hier haben wir Gabriel Yorans unterhaltsame Warenkunde vorgestellt, in der die Debatte über ein planetares menschliches Maß und die Legitimität von Bedürfnissen aufgegriffen wird. Die Regierung Merz, und man wird von der SPD da keinen sonderlichen Widerstand erwarten können, bleibt dagegen im Denkraum der fossilistischen Ära stecken, wo »Wachstum« und »Wettbewerbsfähigkeit« als die beiden ideologischen Hauptlampen leuchten. Die Interessen des Standort-Kapitals in der Konkurrenz mit anderen sind hier gleichbedeutend mit der stofflichen Überforderung des Planeten – zumal ja alle immer »wettbewerbsfähiger« werden wollen und also alle immer wachsen müssen. Das war schon zu 350-ppm-Zeiten schwerer Murx, wird vom Kanzler nun aber als »neues Grundverständnis« verkauft: Unternehmen, Merz nennt dann pflichtschuldig noch die Beschäftigten und Sozialpartner, aber wir wissen wie es gemeint ist, die Unternehmen also »verdienen einen Vertrauensvorschuss«. Hat ja bisher so gut geklappt mit den ökologischen Selbstverpflichtungen oder dem kapitalistischen Normalvollzug, in dem jede vernünftige Regel, die auf das Gesamtinteresse abzielt von irgendeinem »Unideologisch und technologieoffen«-Betonkopf als ganz übler Schachzug wider »Freiheit« und sonstwas kritisiert wird.
#5 Ach ja, die Unternehmensinteressen. Während Ministerin Reiche alles dafür tut, auch die nächste grüne deutsche Branche ins Verderben zu stürzen (»Zwang zur Wärmepumpe«), erinnert man sich an das Aus für die deutschen Solarversuche. Wegen China! Nun ja. Dort sind zum ersten Mal die CO2-Emissionen (ohne Landwirtschaft) gesunken, und das bei einem weiterhin schnellen Anstieg der Energienachfrage. Bei Carbon Brief gibt es mehr dazu. Adam Tooze hat sich die Energiewende, nein, man muss hier von Stromwende sprechen, in historischer Perspektive angesehen. Strom ist für bis zu 30 Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich, 2024 übertraf der weltweite Zubau von Erneuerbaren den Zubau fossiler Energieträger um fast das Zwanzigfache, Erneuerbare tragen zum weltweiten Kapazitätszubau an der Stromerzeugung zu 90 Prozent bei. Aber was nach einer weltweiten Wende aussieht, ist vor allem eine chinesische. »Der spektakuläre Anstieg der globalen Investitionen in erneuerbare Energien ist in Wirklichkeit die Geschichte eines einzigen Landes.« Tooze sieht danei drei Phasen im Vierteljahrhundert der erneuerbaren Energien und jeweils ist die Rolle Chinas dabei eine andere. 2023 und 2024 entfielen dann fast zwei Drittel der neu installierten Wind- und Solarkapazität allein auf China. Aber hat Peking nicht verzerrende Vorteile – Kostenvorteile beim Bau nötiger Anlagen, Technologieklau, staatskapitalistische Förderung? Und ist es nicht besser, durch protektionistische Maßnahmen etwa den Import günstigerer Solarmodule zu verhindern und stattdessen »eigene« Produktionen aufzubauen? Von wegen Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum? Hannah Ritchie hat dazu zwei interessante Analysen vorgelegt, die eine zu Effekten für die Arbeitsmärkte, die andere zur Frage, warum in China planetare Technologie teils so viel billiger ist. Kurz zusammengefasst: Die meisten Jobs im Zusammenhang mit Solarenergie finden sich in den Bereichen Installation, Ausbau und Wartung; nicht in der Fertigung. Weshalb es sinnvoll sein kann, lieber auf preiswerte Module aus China zu setzen, statt die eigene Stromwende durch teurere, erst (wieder) zu schaffende Eigenproduktion zu verzögern. Und billiger sind Solarmodule und Batterien aus China nicht etwa wegen der preiswerteren Ware Arbeitskraft (die spielt nur eine Nebenrolle) oder wegen der Subventionen (gibt es genauso woanders), sondern vor allem: wegen des ziemlich weit vorausgeeilten Automatisierungsgrades und modernster Herstellungsprozesse. Ritchies Zahlen zeigen dabei auch, wie groß die Unterschiede zwischen chinesischen Herstellern sind.