Klimanotizen 67

Nach dem bisher wärmsten Jahr seit Beginn der regelmäßigen Messungen 1881 spielt Klimaschutz bei der Regierungsanbahnung nur eine Nebenrolle. Stattdessen wollen alle Wachstum, wo Alternativen zu den Steigerungsdynamiken dringend nötig wären. Kann uns eine neue Poesie der Nachhaltigkeit helfen?

#1 Wo stehen wir? Was die Lage in der Bundesrepublik angeht, gibt der neue Klimastatusbericht 2024 darüber Auskunft: das bisher wärmste Jahr seit Beginn der regelmäßigen Messungen in 1881, ein extrem milder Winter mit einer noch nie beobachteten Monatsanomalie und so weiter und so weiter. Auch europaweit war 2024 das wärmste Jahr. Beim DWD spricht man von einem »erschreckenden Plus« von mehr als 2,9 Grad im Vergleich zum Mittel des frühindustriellen Zeitraums 1850 bis 1900. Weltweit lag 2024 um 1,55 Grad über dem Vergleichswert. Der Bericht enthält viele regionale Daten, was in der regionalen Berichterstattung größere Aufmerksamkeit verdient hätte. »Experten alarmiert – Klimawandel beschleunigt sich immer mehr«, heißt es unter anderem hier. Derweil legt eine Studie des Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung nahe, dass  Rückkopplungen im Klima- und Kohlenstoff-Kreislauf zu einer stärkeren Erderhitzung führen. Die Forscherinnen befassen sich mit langen Zeiträumen, der Klimasensitivität, Klima- und Kohlenstoffkreislauf-Rückkopplungen und fragen nach dem Erreichen des maximalen Temperaturanstiegs. Dieser liegt in der Regel außerhalb des Horizonts herkömmlicher Studien. Apropos: Hier findet man eine Studie mit Schätzung der künftigen hitze- und kältebedingten Sterblichkeit durch den Klimawandel. Frühere Schätzungen hatten gezeigt, dass die Sterblichkeitslast durch Kälte viel größer ist als durch Hitze. Damit stellt sich die Frage, ob die Klimakrise zu einem Nettorückgang der temperaturbedingten Sterblichkeit führen könnte. Das Ergebnis: nein. Das Science Media Center hat weitere Expertinnen dazu befragt

#2 Eine der planetaren Krisenlage angemessene Berücksichtigung in den hiesigen politischen Debatten wird man nicht behaupten können. Das Thema ist weitgehend von Trumps Zollhammer zertrümmert und unter den geopolitischen Unsicherheiten begraben, die nun auch von der Politik der rechtsradikalen US-Regierung ausgehen. Das schlägt sich im Aufmerksamkeitsranking der laufenden Koalitionsverhandlungen nieder. Ein Appell von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern versucht, die Klima- und weitere Umweltkrisen aus dem Schatten zu holen. Ein Argument soll »die Politik« an dem Punkt ansprechen, um den sie selbst aktuell kreist, allerdings mit ganz anderen Pointen: Die biophysikalische Existenzkrise sei »mittelfristig die größte Bedrohung für Sicherheit, Wirtschaft und Wohlstand, Demokratie, Zivilisation und Menschenleben«. Auch früher eher unwahrscheinliche Koalitionen bilden sich wie jene des Naturschutzbundes Nabu, der mit dem Gesamtverband der Versicherer auf die Koalitionsverhandlungen einzuwirken versucht. Auch die Grünen haben mehrfach erklärt, Union und SPD müssten »beim Klimaschutz auf Kurs bleiben«, wobei zu bedenken ist, dass der bisherige nicht einmal ausreichend ist, um die selbst gesteckten Ziele zu erreichen. 

#3 Bei der Regierungsanbahnung spielt das aber allenfalls nominell eine Rolle. In den bekannt gewordenen Verhandlungspapieren der Arbeitsgruppen von Union und SPD taucht der Begriff Klimaschutz zwar 20 Mal auf – genauso oft aber auch der Begriff Wachstum. Als Bedrohung werden vorrangig sicherheitspolitische Risiken betrachtet, ebenso die Möglichkeit tiefer gehender ökonomischer Verwerfungen. Dagegen fährt unter anderem das Institut für Weltwirtschaft in Kiel das Argument auf: »Klimapolitik ist keine konkurrierende Priorität zur Verteidigung – sie ist ihre strategische Ergänzung.« Die Rechnung: Verringert sich die hiesige Abhängigkeit von fossilen Energieträgern, verringern sich auch die Ressourcen des Regimes in Moskau, Kriege zu führen. Wie Schwarz-Rot »beim Klimaschutz abbremst«, wird unter anderem hier zusammengefasst. Auch hier geht es darum, wie bei den Verhandlern die Natur »aufs Nebengleis« gerät – rund um den bisherigen Stand der Gespräche in der AG 15 »Klima und Energie«. Beim Science Media Center kann man ein Fachgespräch zur detaillierten Frage nachhören, wie es mit der Wärmewende weitergeht. Eine knappe Mehrheit in der Bundesrepublik spricht sich weiterhin für schärfere Klimaschutzmaßnahmen aus – aber nur eine Minderheit unterstützt die Einpreisung ökologischer Kosten, insbesondere in den Bereichen Mobilität oder Heizen. »Um die Akzeptanz zu erhöhen, wäre eine Rückverteilung der Einnahmen erforderlich«, wirbt das unternehmensnahe IW Köln. Zu rechnen ist damit aber nicht, aus den Koalitionspapieren geht hervor, dass eine Rückverteilung erst mit dem Einsetzen des zweiten europäischen Emissionshandels ETS 2 für Verkehr und Gebäude avisiert ist, mit dem ein europäischer Klimasozialfonds entstehen wird, dessen Gelder genutzt werden sollen. Aber: wohl nicht als Pro-Kopf-Prämie, sondern als »unbürokratische und sozial gestaffelte Entlastungen und Förderungen beim Wohnen und bei der Mobilität auf den Weg bringen«.

#4 »In der Debatte um den Klimaschutz wird die Perspektive von Menschen mit wenig Geld viel zu oft vergessen«, mahnt derweil die Diakonie, die ein Gutachten zu einem »Sozial-ökologischen Existenzminimum« in Auftrag gegeben hat. Da wegen der aktuellen Wirtschaftsentwicklung und der notwendigen Investitionen in den Klimaschutz Menschen in den unteren Einkommensgruppen in absehbarer Zeit mit deutlich weniger verfügbarem Einkommen ihren Alltag bestreiten müssen, sollten künftig bei der sozialpolitisch relevanten Bestimmung des Existenzminimums ökologische Kriterien berücksichtigt werden. Darüber hinaus komme es für alle Haushalte mit unterem und mittlerem Einkommen auf eine Politik der Ermöglichung an, aus einem CO2-intensiven Lebensstil auszusteigen. Breit gedacht ist das nicht nur eine Frage von individuellen Einkommen, sondern vor allem von klimagerechter Infrastruktur. Zwar steht letztere nach der Entscheidung für ein Sondervermögen im Zentrum aktueller Debatten. Solange diese aber sowohl sozial als auch stofflich blind bleiben, ist womöglich gar nichts gewonnen – im Gegenteil. Darauf hat abermals Nick Reimer hingewiesen. »Mehr Geld zu investieren bedeutet aber immer, den Ressourcenverbrauch weiter anzukurbeln, und so lange diese Ressourcen Beton, Stahl, Benzin oder Kieselsäure sind, wird die Atmosphäre weiter angeheizt«, schreibt er hier. »Klimaschutz bedeutet indes weniger.« Für diesen zentralen Gedanken, der von einer biophysikalischen Realität ausgeht, also keine »Meinung« ist, findet sich politisch kaum Resonanz: eine Fortsetzung der überfordernden und entfremdenden Steigerungsdynamiken wird nicht funktionieren. Rudi Kurz hat einen weiteren Aspekt der Irrfahrt in die »ökologische Sackgasse« anhand der Entscheidungen zur Schuldenbremse und zum Sondervermögen gerade noch einmal illustriert: die Ermöglichung von Kreditaufnahmen in einer Größenordnung von ca. einer Billion Euro setzt darauf, dass damit Wirtschaftswachstum angefeuert wird, auch um die Tragfähigkeit der Schulden zu ermöglichen. Aber welche Auswirkungen hat das auf den Klimaschutz, stellt man in Rechnung, »dass hinter jedem Euro, um den das BIP eines Landes anschwillt, die Bewegung von Materie und Energie steht – mit den entsprechenden ökologischen Konsequenzen« (Simon Schaupp)? Kurz rechnet das anhand der deutschen Klimaschutzziele und der aktuell realistischen Reduktionspfade der Emissionen durch. Ergebnis: Die nötige Reduktionsrate wird nur erreicht, »wenn sich die Wirtschaftskrise fortsetzt und verschärft«, »dafür gibt es kein (sozialverträgliches) Konzept. Das Entkoppelungs-Green-Growth-Narrativ versagt im Hinblick auf die Dimension der Herausforderung.«

#5 Was tun? Der Bioökonom Jan Grossarth hat in der FAZ eine neue »Poesie der Nachhaltigkeit« gefordert. Man müsse anders über den ökologischen Umbau reden, wenn er nicht scheitern soll. Die Engführung auf Skalierung, Optimierung, Normierung vor allem was den industriellen Klimaschutz angeht, führe nicht weiter. »Das Problem ist, dass die ingenieurswissenschaftlich optimierte Nachhaltigkeit nur wenige berührt.« Grossarth beruft sich auf Nicholas Georgescu-Roegen und plädiert dafür, wie jener den »Blick von globalen Stoffströmen wieder auf persönliche Geschichten« zu lenken. Das löse zwar kein einziges Umweltproblem, erneuere aber etwas, das auch der Phänomenologe Thomas Fuchs unter Berufung auf Ivan Illich betont: »Konvivialität als Leitmotiv einer persönlichen, verkörperten Umweltethik« zu stärken, also »die Verbundenheit des Lebens zu fühlen – vom Insekt zum Säuger zum Menschen und den Menschen untereinander«. Grossarth ist skeptisch, ob das gelingt. Zu ergänzen wäre wohl, dass es zwar aus der Perspektive des Experten so scheinen mag, dass man den »Blick von globalen Stoffströmen wieder auf persönliche Geschichten« lenken müsse. Die allermeisten Menschen aber von den globalen Stoffströmen selbst bisher noch nie gehört haben. Deren Dimension ist gewissermaßen eine Anti-Poesie: Die Organisation von Material- und Energieströmen, also die stofflichen Prozesse, auf denen »Gesellschaft« letzten Endes beruht, werden unter anderem von der Sozialökologie auch gemessen. Das Wirtschaftswachstum zwischen 1970 und 2023 bekommt so auch eine Ziffer jenseits des BIP-Indikators: Die in dieser Zeit weltweit extrahierten Naturstoffe summieren sich auf 104 Gigatonnen, eine Größenordnung, die »mit der gesamten Nettoprimärproduktion der planetaren Biomasse vergleichbar« ist. Unter anderem darum geht es in dem soeben erschienen Buch von Éric Pineault: »Die soziale Ökologie des Kapitals«. (Dazu bald mehr.) Die nicht mehr zu übersehenden Spuren, die der Mensch insbesondere seit Mitte des 20. Jahrhunderts dauerhaft auf der Erde hinterlässt, haben schon vor 25 Jahren den Atmosphärenforscher Paul J. Crutzen dazu angeregt, ein neues Erdzeitalter nach dem Menschen zu benennen: Anthropozän. Damit befasst sich die neueste Ausgabe von »Aus Politik und Zeitgeschichte«

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