Klimanotizen 61

Deutschland fällt beim Klimaschutz zurück. Das freut fossile Lobbyisten. Dabei wird die Energiewende viel günstiger als gedacht. Über falsche Prognosen, tote Geier, einen anderen Wohlfahrtsindex und die wachsende Angst, wegen der Klimakrise das Zuhause verlassen zu müssen.

#1 Wo stehen wir? Der jüngste EU-Fortschrittsbericht zum Klimaschutz ergibt, dass in der Europäischen Union insgesamt 2023 die Treibhausgasemissionen um 8 Prozent gegenüber dem Vorjahr reduziert wurden. Die Emissionen liegen nun 37 Prozent unter dem Niveau von 1990. Blickt auf die Entwicklungen in den einzelnen EU-Staaten, fällt die Bundesrepublik allerdings in den Bereichen Energiewende und Nachhaltigkeit zurück; das ist das Ergebnis des jüngsten Green Transition Index von Wyman. Probleme gibt es unter anderem bei der Dekarbonisierung der Stromerzeugung, der Entwicklung von Übergangstechnologien wie Wasserstoff, im Verkehrssektor, bei der Gebäudesanierung… im Ranking geht es drei Plätze runter auf den zehnten Platz. Überraschend ist das nicht, der Climate Action Tracker bewertet die Klimaschutzmaßnahmen Deutschlands als »unzureichend«. Die Sektoren Verkehr und Gebäude dürften ihre Sektorziele für 2030 verfehlen; für den Verkehrssektor werde es »ohne drastische und disruptive Maßnahmen« nach 2030 »nahezu unmöglich sein, die Emissionsminderungen aufzuholen«, damit erodiert auch das Klimaneutralitätsziel für 2045. Noch vor dem Bruch der Ampel beklagte der Climate Action Tracker die von Uneinigkeit begleitete Unfähigkeit der Regierungspartner, adäquate »umfassende Maßnahmen in allen Sektoren« anzugehen. 

#2 Nun fällt das alles nicht vom Himmel, es haben Kräfte Interesse daran, dass es zu wenig und zu langsam vorangeht. Die Rechercheplattform Correctiv hat sich angesehen, wie die marktradikalen und klimafeindlichen Ideen des Trump-Umfeldes nach Deutschland gelangen: Man habe »Geldflüsse verfolgt, ist politischen und wirtschaftlichen Verbindungen nachgegangen, die von den USA über Ungarn bis hinein in die Spitzenpositionen der deutschen Politik reichen«; hinein in »CDU-nahe Verbände, wirtschaftsliberale Institutionen« und Politikern der FDP und CDU. So werden frühere Recherchen ergänzt, etwa über die »heimlichen Einflüsterer der FDP«, welche dann in der Ampel versucht hat, »jedes relevante Klimaschutzgesetz zu torpedieren«. An der neuen Correctiv-Veröffentlichung ist Annika Joeres beteiligt, die 2020 mit Susanne Götze »300 Seiten Tiefen-Recherche über Klimaschutz-Bremser« vorgelegt hat. Und hier noch ein weiteres Beispiel darüber, wie die »problematische Nähe zwischen fossiler Industrie und Politik« den Klimaschutz blockiert. Apropos fossiler Lobbyismus: Eine neue Datenanalyse zeigt, dass Unternehmen, »die die Welt verbrennen«, in bedeutendem Ausmaß an medizinischer Forschung beteiligt sind. »In den vergangenen sechs Jahren wurden Petro-Unternehmen oder verwandte Organisationen in 180 medizinischen Artikeln als finanzieller Förderer genannt«, heißt es dazu hier. Viele Studien hätten gar keinen offensichtlichen Zusammenhang mit den Interessen der Industrie; durch die wissenschaftliche Zusammenarbeit erhalte diese aber eine »gesellschaftliche Legitimation, weiterzumachen«. Verwiesen wird auf eine weitere Studie, laut der »Universitäten ein etabliertes, aber noch wenig erforschtes Instrument der fossilen Industrie zur Behinderung des Klimaschutzes« sind.

#3 Immerhin: »Die Energiewende wird sehr viel günstiger als gedacht«, denn die Kosten der Energiewende sind drastisch überschätzt worden. So jedenfalls »The Economist«, der sich Prognosen vorgenommen hat und zu dem Ergebnis kommt: »Erstens gehen die berechneten Szenarien in der Regel von absurd schnellen (und damit teuren) Emissionsreduktionen aus. Zweitens wird davon ausgegangen, dass die Weltbevölkerung und die Weltwirtschaft, insbesondere in den Entwicklungsländern, extrem schnell wachsen und den Energieverbrauch in die Höhe treiben werden. Drittens unterschätzen diese Modelle in der Regel die Geschwindigkeit, mit der die Kosten wichtiger kohlenstoffarmer Technologien wie der Solarenergie sinken werden. Viertens und letztens berücksichtigen die Schätzungen dieser Modelle nicht, dass die Welt in jedem Fall massiv in den Ausbau der Energieproduktion investieren muss, egal ob es sich um saubere oder fossile Energieträger handelt.« Unterm Strich gehen die Autorinnen davon aus, dass eine mit den Klimazielen kompatible Energiewende nicht 3 bis 5 Billionen, sondern »nur« 1 Billion US-Dollar kosten wird. Rico Grimm hat sich die Prognoseschwäche am Beispiel des Solarausbaus genauer angesehen, etwa die Schätzung von Wood MacKenzie aus dem Januar 2024, dieses Jahr würden global 353 GW Solarleistung zugebaut - tatsächlich werden es knapp 600 GW. Wie kommt es zu solchen Abweichungen? Die Schätzungen liegen »daneben, weil die Analysten kurzfristige Marktdaten verwenden, um langfristige Trends und Mechanismen abzubilden. Es ist ein bisschen so, als würde man durch einen Blick in den Kühlschrank das Gewicht einer Person in zwei Jahren vorhersagen wollen.« Es liegt hier freilich nicht nur eine methodische Problemlage vor. Die in Projektionen liegende Abschätzung von Potenzialen einer Technologie wird Einfluss auf die politischen Entscheidungen haben, die zum Beispiel das künftige Energiesystem betreffen. Und: Für bestimmte technologische Pfade wichtige Player planen anhand von Prognosen ihre Schritte. Und das kann negative Folgen haben. Aktuell lässt sich das am Ausbau von Großspeichern beobachten. Die Übertragungsnetzbetreiber zeigen sich »gerade überrollt von einem Tsunami an Anschlussbegehren«, in der Pipeline sind Großspeicherprojekte mit 161 Gigawatt Gesamtleistung, etwa hundertmal so viel wie aktuell im Netz angeschlossen. Wie kann es sein, dass »Kein Anschluss für die Megabatterien« in Aussicht ist, obwohl ständig vor Netzproblemen durch den Ausbau von Erneuerbaren bei gleichzeitigem Fehlen von Speicherkapazitäten gewarnt wird? Daran dürften, glaubt Grimm, auch die politischen Folgen fehlerhafter, vielleicht interessensgelenkter Prognosen früherer Zeiten ihren Anteil haben.

#4 »Die optimistische Erzählung hat einen Knacks bekommen«, sagt Andreas Reckwitz nicht zuletzt mit Blick auf die planetare Krise, die ein Treibstoff jener neuen Verlusterfahrungen sind, die im Zentrum der jüngeren Arbeiten des Soziologen stehen. Die Moderne habe »immer schon systematisch auch Verluste hervorgebracht«, diese aber »waren gleichsam nur Dellen auf dem Weg in eine bessere Zukunft. Die Grunderzählung dagegen blieb intakt«, wobei »mehr Wohlstand« für jede folgende Generation im Kern des Fortschrittsoptimismus’ stand. Alles nur ein Knacks? Das dürfte weit untertrieben sein. Denn die Erzählung, die Reckwitz meint, ist ja auch eine soziale Praxis, die basiert auf einem Modus sozialer Integration im Kapitalismus, der über die planetaren Grenzen strukturell hinausgewuchert ist. »Wachstum« in einem verkürzten Verständnis spielt dabei eine entscheidende Rolle. Nun ist der jüngste Wohlfahrtsindex des Heidelberger Instituts für Interdisziplinäre Forschung erschienen, gestiegen um 3 Punkte in Zeiten, in denen alle wegen schlechter BIP-Werte »den Wohlstand« gefährdet sehen. »Der Wohlstand in Deutschland hat sich in den vergangenen Jahrzehnten weniger verbessert, als die Zunahme der Wirtschaftsleistung suggeriert«, was unter anderem an Ungleichheit und Produktionssteigerungen zulasten der Umwelt liegt, die im NWI einbezogen werden - ebenso wie Kosten für Naturkatastrophen, unbezahlte Sorgearbeit und anderes mehr. Die Zahlen haben wenig Aufmerksamkeit erfahren, wohl auch, weil es derzeit kaum politische oder öffentliche Akteure gibt, die den Pointen dieser Herangehensweise folgen möchten. Zu diesen gehört, was der diesjährige Bericht auch diskutiert – seine eigene Begrenztheit, indem etwa die im NWI positiv zu Buche schlagende Steigerung von Konsumausgaben mit der Überschreitung planetarer Grenzen konfrontiert, die »ein weiteres Konsumwachstum als problematisch« erscheinen lassen. Doch wer will mit Suffizienz-Notwendigkeiten, also der Wahrheit, Wahlkampf machen? Lesenswert dazu auch ein Methodenbericht zum aktualisierten NWI

#5 Laut den Ergebnissen einer internationalen Befragung halten es insgesamt 38 Prozent der Menschen für wahrscheinlich, dass sie in den nächsten 25 Jahren wegen der Klimakrise ihr Zuhause verlassen müssen. In einer EU-weiten Umfrage sagten 35 Prozent, dass sie wohl an einen weniger klimagefährdeten Ort im In- oder Ausland ziehen werden müssen, um Überschwemmungen, Waldbrände oder andere extreme Wetterereignisse zu vermeiden. 28 Prozent gehen davon aus, dass sie in eine kühlere Region oder ein kühleres Land übersiedeln müssen. Auf die Zahlen macht Jonas Schaible in seinem jüngsten Newsletter aufmerksam, der sich ziemlich ausführlich den ganz großen Fragen widmet: »Was zum Teufel ist los und warum gewinnen ständig die Falschen?« Michael Jäger schlägt - in einem ganz anderen Zusammenhang - vor, zumindest die »ökologische Krise« als Folge der unendlichen Mehrwertsuche des Kapitals »unter der Bedingung des dramatisch gewordenen Falls der Profitrate« anzusehen, die dazu zwingt, »ungeheure Warenmengen verkaufen« zu müssen, »die in der Produktion wie oft auch Konsumtion mit dem ökologischen Gleichgewicht des Planeten Erde nicht mehr vereinbar sind«. Jäger thematisiert dabei auch die »Komplizenschaft der Konsument*innen« und will auf eine Unterscheidung politischer Akteure entlang der Spaltungslinie ökologische versus unökologische Kräfte hinaus. Darum soll es hier nicht gehen, nur um einen Hinweis zum marxologischen Thema Profitrate. Dass deren von Marx als »Gesetz« prognostizierter Fall nun »dramatisch« geworden ist, wäre noch empirisch zu unterlegen. In derselben Zeitschrift, in der Jäger seine These aufstellt, ließ sich vor ein paar Jahren dazu der aktuelle Stand der wissenschaftlichen Diskussion erfahren, viele »theoretischen Fragen sind ungeklärt und ebenso fehlt es an beweiskräftiger empirischer Evidenz«. Neue Belege für die hoch komplexen Wechselwirkungen in der biophysikalischen Krise haben derweil zwei Ökonomen vorgelegt: Mit dem Auslaufen des Diclofenac-Patents sanken die Preise für das Medikament so weit, dass indische Bauern es als Mittel für ihre Nutztiere einsetzen konnten; dies wiederum schadete den Geiern so sehr, die regional eine erhebliche Bedeutung für die Beseitigung der Überreste der 500 Millionen heiligen Kühe hatten, dass die Geier nun vom Aussterben bedroht sind und die Kadaver nun viel mehr Tiere anziehen, die Krankheiten übertragen. Die Folge, wie auch hier beschrieben: Ein »sanitärer Schock«, der in den betroffenen Regionen Indiens zwischen 2000 und 2005 jährlich mehr als 100.000 Personen zusätzlich hat sterben lassen und einen Schaden von gut 69 Milliarden US-Dollar verursachte. 

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