Klimanotizen 59
Kann man von Bari Weiss genauso gelangweilt sein wie von Bernie Sanders? Über Trump und Ampel-Aus, »Analysen« als Spieleinsatz in Empörungsnetzwerken und die populäre Frage: It’s the economy, stupid? Ja, ist so. Aber wer »Oben versus Unten« sagt, muss auch »the burners« versus die Solaren denken.
#1 Man fragt sich nach dieser Woche, ob früher ein anderer öffentlicher, intellektueller Umgang mit politischen Ereignissen vorherrschte. Vielleicht ist schon die Frage Ausdruck von Nostalgie, die hoffend annimmt, ein bedeutsames, weil mit Richtungsentscheidungen verbundenes Wahlergebnis könnte einmal anderes Interesse geweckt haben, denn als Ressource der Selbstbestätigung in Öffentlichkeiten. Ein Teil (natürlich nicht alles an) der Einordnung und Analyse des Sieges von Trump über Harris scheint sich für den Vorgang selbst gar nicht wirklich zu interessieren, er ist in diesen Perspektiven nicht als komplexes, widersprüchliches Geschehen im Ganzen von Belang. Irgendeine Grafik, irgendeine Zahl, irgendein Satz - immer geht es um das, was die eigene Wahrnehmung, eine bestimmte Sprecherrolle, eine Position in politischen Konflikten bestätigt: Token für den Spieleinsatz in Empörungsnetzwerken, in denen »Erfolg« heute offenbar immer weniger an »Likes« gemessen wird, und immer öfter an der Ablehnung, die man mit seinen Takes erzeugt: Hö hö, guck mal, wie die anderen wieder wüten!
#2 Im Grunde könnte man das, was Ulf Poschardt oder Bari Weiss zum Ausgang der Wahlen in den USA sagen, für genauso langweilig und vorhersehbar halten wie das, was man nun bei Bernie Sanders oder in »Jacobin« liest. Oder von Autoren, welche die »Welt« sich hält, weil wie Sanders und andere klingen, ganz hübsch zur eigenen Agenda passt. Wer »Harris ist über ihre eigenes Wokistan gestolpert« kauft, hat sich wahrscheinlich auch »Die Demokraten haben die Arbeiterklasse verraten« angesehen. Der Unterschied, der allerdings Beachtung verdient, liegt in der sehr ungleichen Entfernung beider Positionen zur Möglichkeit, Macht auszuüben. Die einen beklatschen und befeuern eine tatsächlich stattfindende Reaktion. Die anderen beklagen eine schon sehr lange ausgebliebene Revolution. Die einen stehen denen nahe, die tatsächlich den Stand erkämpfter sozialer, demokratischer, Freiheitsrechte zurückdrehen können. Die anderen sind weit davon entfernt, die soziale Ordnung über den erreichten Stand politisch substanziell hinauszutreiben. Was im zweiten Lager bisweilen dazu führt, den Erfolg des ersten Lagers als irgendwie gerechte Strafe oder was weiß ich zu verklären.
#3 Genug gejammert. It’s the economy, stupid? Julius Kölzer hat hier kurz notiert, warum diese nun recht populäre Parole zunächst nur einen diffusen Zusammenhang zwischen Wirtschaftslage und Wahlverhalten postuliert, ohne zu konkretisieren worin dieser denn nun genau besteht. Gegen den zu einfachen Hinweise, die Wahl habe in einem »Land mit Vollbeschäftigung, robusten Wachstumsraten, sinkender Ungleichheit und steigenden Löhnen« stattgefunden, hat Rudi Bachmann hier einige Bemerkungen vorgebracht: Trotz solidem BIP-Wachstum stiegen die Reallöhne im Durchschnitt erst seit 2022 wieder und das langsam; die Beschäftigung liegt in den USA immer noch weit unter Vor-Corona-Nivea, der Anteil der Arbeitseinkommen am gesamten Einkommen ist während der Amtszeit von Biden kontinuierlich gesunken. Über die Exit polls zum Beispiel von Edison Research für den National Election Pool, in dem große Sender wie CNN vertreten sind, lässt sich viel nachdenken: die beinahe gegenläufige Sicht auf die »Condition of the nation’s economy« oder das »Feeling about the way things are going in U.S.« in den jeweiligen Wählerschaften; die Tatsache, dass Bildungsunterschiede statistisch signifikanter sind als Einkommensunterschiede; die Verteilung von subjektiv erfahrener Inflationsbelastung zwischen den Wählern von Trump und Harris oder auch die erklärungsbedürftige Tatsache, dass in der Trump-Wählerschaft die Sorgen um die Bedrohung der Demokratie höhere Zahlen hervorbringen als in jener der Demokraten. Partick Flynn sorgt mit einer Grafik für Debatten, die zeigt, wie die Republikaner von der Partei der »High Edu, high income« zur Partei der »Low Edu, low income« wurden und vice versa die Demokraten. Ilyana Kuziemko und andere hatten schon vor einem Jahr in »Compensate the Losers? Economic Policy and Partisan Realignment in the US« eine Studie vorgelegt, die einen Trend bei den Demokraten von der Betonung von »predistribution« zu Umverteilung seit den 1970ern nachzeichnet. Und ein wichtiger Aspekt: die »Great Affordability Crisis«, von der Annie Lowrey hier und hier berichtet.
#4 Der Ausgang der Wahlen in den USA wäre auch ohne Ampel-Aus zur Folie hiesiger Diskussionen geworden; nach dieser denkwürdigen Woche könnte das nun umso mehr der Fall sein. Bernd Ulrich spricht von einer »Regierungskrise des Westens insgesamt. In den USA wurde die maximale Disruption gewählt, im sicherheitsbedürftigen Deutschland ist sie einfach passiert«. John Burn-Murdoch hat darauf hingewiesen, dass die Niederlage der US-Demokraten sozusagen im Trend liegt, 2024 sei zu einem wahren »Friedhof der Amtsinhaber« geworden. Dabei wird man Unterschiede und Ähnlichkeiten gleichermaßen in den Blick nehmen müssen. Julius Kölzer hat Zahlen über den Zusammenhang zwischen Bildungsniveau und Unterstützung rechter Parteien in Europa zusammengetragen (hier und hier). »Es ist noch zu früh, um gründlich die beiden Fragen auszuleuchten«, so noch einmal Ulrich, die »für die liberalen, linken, ökologischen Kräfte im Raum stehen, und die lauten: Warum verlieren wir? Und: Wie gewinnen wir?« Was dann wieder zu Fragen führt, welche Rolle dabei »das Vokabular einer demokratischen Klassenpolitik« spielen könnte, wie das Linus Westheuser und Thomas Lux am Ende ihrer Untersuchung über »Klassenbewusstsein und Wahlentscheidung« formulieren: »Verteilungs- und Anerkennungskämpfe zwischen sozialen Gruppen werden in der Zukunft eher zu- als abnehmen«. Dies vor dem Hintergrund, dass das »Politikmodell, Verteilungskonflikte durch hohe Wachstumsraten zu umgehen«, eines der Vergangenheit ist - nicht weil irgendwer »die Arbeiterklasse verraten« hat, sondern weil die gesellschaftlichen Naturverhältnisse eine Fortsetzung auf dem alten Pfad sozialer Integration im Kapitalismus nicht mehr zulassen. Westheusers und Lux’ Appell, die Linke müsse wieder stärker »widerstreitende Interessen aufgreifen, schärfen und zum Kompass ihrer Politik machen«, ist so gesehen nicht schon dann erfüllt, wenn man ganz laut »Oben und unten« sagt. Man muss dazu auch ganz laut »Fossil und solar« sagen.
#5 Denn das scheint bei allen Verarbeitungen der tiefer liegenden Zustandsveränderungen, die ihren Ausdruck in den politischen Ereignissen dieser Woche fanden, nur am Rande Beachtung zu finden: Die Planetare Frage bringt »widerstreitende Interessen« auf beiden Seiten der klassischen sozialen und materiellen Konfliktachse hervor. Hinter dem, was der endlich geschasste Finanzministerdarsteller Lindner (eine lesenswerte Einordnung von Robert Pausch) als »unterschiedliche Denkrichtungen« in seinem »Wirtschaftswende«-Papier ausmacht, »vertikale Industriepolitik durch staatliche Feinsteuerung über kreditfinanzierte Subventionen und selektive Regulierungen« versus »Marktbasierte, diskriminierungsfreie und somit technologieoffene Angebotspolitik durch umfassende Verbesserungen des Ordnungsrahmens«, steckt ja mehr als eine ordnungspolitische Meinungsverschiedenheit. Um diese Richtungsalternativen sammeln sich, tja, früher hätte man gesagt »Kapitalfraktionen« und deren widerstreitende Interessen. Wolfgang Blau hat die FDP im Ampelstreit entsprechend eingeordnete: Es gebe Einzelkapitale, »die schneller dekarbonisieren wollen als selbst ihre jeweilige Regierung das will, sowie Allianzen, die diesen Prozess noch verlangsamen wollen. Die FDP hat sich zur Partei der letzteren Gruppe reduziert«: Sie ist Partei der »Burners«. Die andere Seite ist vielleicht mit »die Solaren« nicht wirklich gut erfasst; in der jeweiligen Stellung zur Dekarbonisierung gibt es aber auch in den unteren Klassen Interessenunterschiede. Und eben auch unterschiedliche Profiteure. Noch einmal einen Blick in die USA: Unter der Oberfläche der Durchschnittszahlen - Entwicklung Reallöhne usw. - lässt sich ja durchaus eine geteilte Welt aus denen vermuten, die ganz individuell durch IRA, Build Back Better und Co. besser gestellt wurden als andere, an deren sozialer und Arbeitswirklichkeit die Maßnahmen eher vorbeigingen. Bidens Politik hat in Bereichen wie Bau, Erneuerbare, Handwerk, Logistik und bestimmten Sparten des Produzierenden Gewerbes andere Auswirkungen als etwa im Gastrobereich, der höchstens auf indirekte Effekte hoffen kann. Hier ist eine Reportage darüber zu lesen, woher sie kommen, die »sehr verschiedene Meinungen darüber, wie es dem Land ökonomisch geht«. »It’s the economy, stupid?« Ja, ist so. Aber wohl etwas komplizierter, als man es hier und da liest.