Klimanotizen 56

Überfordert? Man stelle sich vor, dieselbe Energie, mit der gerade all die Schäbigkeiten gegen Migration, Asyl und Menschenwürde vorgetragen werden, würde in eine große Debatte gelenkt, um die Blockaden für gute Klimapolitik in Kommunen zu überwinden.

#1 Wo stehen wir? Mitten in einer deutschen Öffentlichkeit, in der sich alles um Migration dreht, besser: um deren Verhinderung. Praktische Lösungen für real existierende Probleme spielen im Wettlauf der Niedertracht nur am Rande eine Rolle; er wird von der Mechanik der Aufmerksamkeitsökonomie angetrieben: Wer kann noch lauter »Überforderung« sagen, wer noch ungerührter Forderungen wider allen Anstandes erheben? Mit Fakten kommt man in dem Lärm nicht weit, eine Zahl hier nur als Beispiel: Der Anteil der Kommunen, die sich als »überlastet« mit der Unterbringung von Geflüchteten sieht, ist von Oktober 2023 bis Mai 2024 von gut 40 auf knapp 23 Prozent zurückgegangen. Unter ostdeutschen Kommunen sind nicht einmal 8 Prozent »überlastet«. Dabei wird der parteipolitische Überbietungskampf ja gerade aus »Rücksicht« auf angenommene Haltungen »der Bevölkerung« in den derzeit wählenden Bundesländern betrieben. Wer auf rechtsstaatliche, ökonomische, demografische Argumente wert legt, ja einfach nur auf einen gesunden Menschenverstand und etwas Haltung, wird mit allen Varianten von »Ausländer raus« konfrontiert. Apropos Überforderung: Sechs von zehn Kommunen gehen laut Daten der KfW-Forschung davon aus, dass sie nur einen geringen Teil der für Klimaschutz und Anpassung benötigten Investitionen oder gar nichts davon stemmen können. Das Problem ist nicht nur zahlenmäßig größer als das bei der Unterbringung von Geflüchteten, sondern in jeder Hinsicht. In der politischen Öffentlichkeit wird das Planetare aber vom Nationalen weit in den Schatten gestellt. Die Wahrnehmung der Wirklichkeit ist völlig verzerrt. 77 Prozent der Kommunen haben laut einer aktuellen Studie bereits die Folgen extremer Wetterereignisse oder anderer negativer Folgen des Klimawandels zu spüren bekommen. Starkregen, Stürme, lang anhaltende Hitzeperioden, Dürren und so weiter lassen sich nicht mit Grenzschließungen oder Geldentzug abhalten. 

#2 Umgekehrt wird ein Schuh daraus: Erfolgreicher Klimaschutz ist ohne Städte und Gemeinden nicht machbar. Die Kommunen erbringen rund 30 Prozent aller öffentlichen Investitionen, bei staatlichen Baumaßnahmen sind es sogar fast zwei Drittel. Ebenfalls auf zwei Drittel lässt sich der kommunale Anteil am öffentlichen Energieverbrauch schätzen, direkt und indirekt, also auch über Unternehmen und Beteiligungen, können den Städten und Gemeinden etwa 38 Prozent der gesamten deutschen Treibhausgasemissionen zugerechnet werden. Das Einsparpotenzial der Kommunen wird laut KfW Bankengruppe auf rund ein Drittel dieses Verbrauchs geschätzt. Viele Bereiche, in denen Klimaschutzmaßnahmen direkt umgesetzt werden können, liegen in kommunaler Verantwortung, dies gilt auch für planerische Fragen oder Beratungsangebote. Städte und Gemeinden kennen die Handlungsbedarfe und möglichen Alternativen am besten. Und auch die im Klimaschutz aktive Zivilgesellschaft, hier sind nicht nur »Aktivisten« gemeint, ist mehrheitlich »vor Ort« engagiert. Im Jahr 2021 haben die Gemeinden, Städte und Kreise in der Bundesrepublik insgesamt rund 2,9 Milliarden Euro für Investitionen in Klimaschutzmaßnahmen und etwa 1 Milliarde Euro für Klimaanpassung ausgegeben. Das geht aus einer Hochrechnung im Rahmen des KfW-Kommunalpanels 2023 hervor. Damit entfielen rund 15 Prozent aller kommunalen Investitionen 2021 auf Klimaschutz und Klimaanpassung. Das Deutsche Institut für Urbanistik hat in einer Studie begleitend den Informations­stand zu den kommunalen Maßnahmen in den Bereichen Klimaschutz und Klimaanpassung analysiert. Nun gilt sei 1. Juli diesen Jahres das Klimaanpassungsgesetz; der Rechtsrahmen für die Bundesländer, eigene Klimaanpassungsstrategien vorzulegen, und dafür Sorge zu tragen, dass die Kommunen Klimaanpassungskonzepte aufstellen. Wie ist der Stand in den Kommunen? Dazu gibt es nun neue Zahlen des Umweltbundesamts, demnach wurden Maßnahmen zur Klimaanpassung bereits von über 40 Prozent der Kommunen umgesetzt. Weitere knapp 40 Prozent gaben an, entsprechende Maßnahmen zu planen. 12 Prozent der Kommunen geben an, bereits ein Klimaanpassungskonzept zu besitzen. Über 30 Prozent der Kommunen wählen klimaangepasste Pflanzen aus, legen Bebauungsgrenzen fest, renaturieren Gewässer, legen offene Wasserflächen an und informieren die Bevölkerung über Gefahren und vorsorgenden Schutzmaßnahmen. Fehlende personelle (80 Prozent) und finanzielle Ressourcen (73 Prozent) sind die bedeutendsten Hemmnisse bei der Planung oder Umsetzung von Klimaanpassungsmaßnahmen.

#3 Laut einer Berechnung von KfW Research sind gesamtwirtschaftliche Investitionen in Höhe von rund 5 Billionen Euro erforderlich, um in Deutschland Klimaneutralität bis zur Mitte des Jahrhunderts zu erreichen, 500 Milliarden Euro davon durch die öffentliche Hand. Grob geschätzt dürften davon wiederum etwa 30 Prozent, also 150 Milliarden Euro, auf die Kommunen entfallen. Heruntergebrochen auf einzelne Jahre hieße das, Kommunen müssten durchschnittlich rund 5,8 Milliarden Euro pro Jahr in Klimaschutzmaßnahmen investieren. Doch - siehe oben - viele haben die Mittel nicht. Eigentlich müssten »Investitionszuschüsse und Fördermittel von Bund und Ländern steigen oder eine verstärkte Finanzierung über Kredite erfolgen«, heißt es bei der KfW. Einer höheren Verschuldung seien aber enge wirtschaftliche und haushaltsrechtliche Grenzen gesetzt. Hinzu komme, so die KfW, dass der Personal- und Fachkräftemangel »sich zunehmend als zentraler Engpass für die Bewältigung der transformativen Aufgaben« darstelle. Dies zu beheben, erfordert wiederum weitere Finanzmittel. Ein Hebel könnte sein, Klimaschutz und Klimaanpassung als Pflichtaufgaben im Grundgesetz zu verankern, wie es etwa das Klimabündnis fordert, ein Zusammenschluss von Kommunen, Gewerkschaften und Umweltverbänden. Untersetzt wird die Forderung mit einem Rechtsgutachten von Roda Verheyen. Als Lösung wird vorgeschlagen, »im Grundgesetz einen Artikel 91a Abs. 1 Nr. 3 zu schaffen. Dadurch entstünde ein Kooperationsgebot zwischen Bund und Ländern und eine Mischfinanzierung der Aufgaben wäre rechtlich zulässig.« Bereits im Dezember 2022 hatte ein Forschungsteam unter Leitung des Öko-Instituts im Projekt »Wirkungspotenzial kommunaler Maßnahmen für den nationalen Klimaschutz« sechs strategische Forderungen an Bund und Länder erarbeitet. Eine davon: Damit Kommunen den Klimaschutz über entsprechende Strukturen und Personal dauerhaft in ihrer Verwaltung verankern können, müssten Länder und Bund Finanzmittel dafür zur Verfügung stellen. Ein wichtiges Signal sei wäre es deshalb, so schnell wie möglich eine dauerhafte Grundfinanzierung für den kommunalen Klimaschutz zu schaffen. »Klimaschutz gilt bisher nicht als Bestandteil der kommunalen Daseinsvorsorge«, heißt es in einer vom Umweltbundesamt herausgegebene Studie vom Februar 2022. Die Studie identifiziert vier Einflussbereiche des kommunalen Klimaschutz mit jeweiligen Beispielen. Im April 2023 hat die Agentur für kommunalen Klimaschutz ihre Arbeit aufgenommen. Sie folgt dem Service- und Kompetenzzentrum: Kommunaler Klimaschutz nach, das seit 2009 Kommunen im Klimaschutz durch Förderberatung und unterschiedliche Informations- und Vernetzungsangebote unterstützt hat. Die Agentur soll als bundesweite Ansprechpartnerin in allen Fragen des kommunalen Klimaschutzes und als Lotsenstelle des Bundes für die Energie- und Klimaschutzberatung von Kommunen wirken. Die Agentur ist im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft und Klimaschutz tätig, ist weiterhin am Deutschen Institut für Urbanistik (Difu) angesiedelt und wird bis 2028 mit rund 21 Millionen Euro aus Mitteln der Nationalen Klimaschutzinitiative finanziert.

#4 Wie Klimaschutz in Kommunen umgesetzt wird? Das ist von Ort zu Ort ganz unterschiedlich. Die Ergebnisse einer Befragung des Umweltbundesamtes im Jahr 2023 geben zum Beispiel einen Einblick, wieviel Personal in den Kommunen für den Klimaschutz zur Verfügung steht und welche Ziele und Konzepte vorliegen oder geplant sind. Einen Überblick über unterschiedliche Strategien, Erfahrungen und Maßnahmen, Handlungsmöglichkeiten im kommunalen Klimaschutz und praktische Anregungen für die Umsetzung fasst der Praxisleitfaden »Klimaschutz in Kommunen« zusammen, der inzwischen in 4. Auflage aktualisiert vorliegt. Beispiele für kommunalen Klimaschutz gibt es auch beim Klima-Bündnis, in dem fast 2.000 Mitgliedskommunen in mehr als 25 europäischen Staaten, Bundesländer, Provinzen, NGOs und andere Organisationen zusammenarbeiten. Es handelt sich um das größte europäische Städtenetzwerk, das sich dem Klimaschutz verschrieben hat. Kommunale Praxisbeispiele zur Klimaanpassung finden sich hier. Fachwissen und Best Practice zu nachhaltiger Stadtentwicklung, kommunalem Klimaschutz, energieeffizientem Bauen und urbaner Mobilität gibt es unter anderem hier oder auch hier. Klimaschutzmaßnahmen haben neben den treibhausgasmindernden Wirkungen auch viele andere Vorteile, etwa Unabhängigkeit von fossilen Importen und Preisschwankungen, Kostensenkungen durch Maßnahmen der Energieeffizienz, Verbesserung der Lebensqualität und der Gesundheit oder die Verringerung von Ungleichheit. Pilotprojekte zu Umweltgerechtigkeit in deutschen Kommunen, Hinweise zu wissenschaftlichen Studien und Handreichungen für kommunalen Klimaschutz finden sich auch hier. Zahlreiche Beispiele und Veröffentlichungen zum Thema finden sich ebenfalls auf der Themenseite der Umwelthilfe. 

#5 Ein Nadelöhr, durch das gelingender Klimaschutz in den Kommunen hindurchmuss, sind die Möglichkeiten der Finanzierung öffentlicher Ausgaben, und solange die Schrumpfpartei FDP hier am bundespolitischen Hebel sitzt, wird die Passage praktisch unpassierbar. Dabei sind inzwischen im Grunde alle außer dem Lindner-Club dafür, die so genannte Schuldenbremse mindestens zu reformieren. Tom Krebs hat hier eine Investitionsregel als Kernstück vorgeschlagen. Das Dezernat Zukunft hat dieser Tage zwei Studien zu öffentlichen Finanzbedarfen und Finanzierungsoptionen veröffentlicht, die von der Notwendigkeit des Einsatzes zusätzlicher öffentlicher Gelder in Höhe von 782 Milliarden Euro bis 2030 ausgeht. Die Grundfrage lautete: »Wenn man diese Ziele ernst nimmt, welche öffentlichen Finanzierungsbedarfe jenseits bereits eingeplanter Mittel gibt es, um sie zu erreichen?« Auf den Feldern Dekarbonisierung und Klimaanpassung kommen die Autorinnen der Studie allein für die Kommunen auf einen Mittelbedarf von 28 Milliarden Euro für Klimaanpassung und 38 Milliarden für Dekarbonisierung. Insgesamt, also Bund und Länder mitgerechnet, müssten in diesen beiden Bereichen in den Jahren 2025 bis 2023 rund 246 Milliarden Euro zur Erreichung der bereits gesteckten Ziele eingesetzt werden. Und da sind Ausgaben etwa für die Sektoren Verkehr und Wohnen, die planetar ebenso einschlägig sind, noch nicht einmal mitgerechnet. Auch der Draghi-Report, der sich zwar einseitig Entwicklungszielen wie »Wettbewerbsfähigkeit« zuwendet, pocht auf erhebliche Mehrausgaben für den Klimaschutz. Dazu werden EU-Gemeinschaftskredite zur Finanzierung gemeinsamer Investitionsprojekte vorgeschlagen - allein die vier größten emissionsintensiven Industrien der EU benötigen in den nächsten 15 Jahren 500 Milliarden Euro zur Dekarbonisierung. Dass Draghi eher von der Idee geleitet ist, die Voraussetzungen der EU zu verbessern, in der internationalen Kapitalkonkurrenz zu bestehen, macht Kritik daran sinnvoll; auch die starre Orientierung auf »Wachstum« erscheint vor dem Hintergrund der Klimakrise anachronistisch. Wer allerdings an sozialen und planetaren gesellschaftlichen Entwicklungsrichtungen interessiert ist, kommt irgendwann zu dem selben Punkt, den auch der Draghi-Report aufmacht: Wie finanzieren? Dass umverteilungspolitische Möglichkeiten längst nicht ausgeschöpft sind, ist sicher richtig. Doch man sollte es der FDP auch nicht durchgehen lassen, mit ihrem Schuldenbremsen-Aberglauben ein ganzes Feld öffentlicher Diskussionen über Wege, Möglichkeiten und Ziele zuzustellen - was dazu beiträgt, dass stattdessen als »Hauptproblem« derzeit Migration und deren Abwehr gelten. Man stelle sich vor, dieselbe Energie, mit der gerade all die Schäbigkeiten gegen Migration, Asyl und Menschenwürde vorgetragen werden (und übrigens auch gegen alle ökonomische, demografische, soziale Vernunft), würde in eine große Debatte gelenkt, in der es darum geht, die »Überforderung« von Bund, Ländern und Kommunen zu überwinden, gelingende Klimapolitik zu betreiben

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