Klimanotizen 55

Im Juli wurde die höchste absolute globale Tagestemperatur jemals gemessen. Die Klimapolitik bringt zu wenig Erfolge, die fossilistische Reaktion marschiert, die Wahlkämpfe hören sich an wie ein Fachartikel über populistische Narrative. Und dann ist da noch diese epistemische Unsicherheit.

#1 Wo stehen wir? Wir haben den Juli als den wärmsten Juli seit Beginn der Wetteraufzeichnungen auf der Erde passiert; die Serie rekordhoher globaler Monatstemperaturen hält nun bereits 14 aufeinanderfolgende Monate an. Hier gibt es die Zusammenfassung der National Oceanic and Atmospheric Administration. Bei Berkeley Earth werden einige Punkte aus der Monatsbilanz herausgegriffen: In 57 Ländern dürften neue nationale Durchschnittsrekorde für Juli aufgestellt worden sein. Im gleitenden Zwölf-Monat-Schnitt ist die Erderwärmung auf 1,67 Grad Celsius über dem Durchschnitt der Jahre 1850 bis 1900 angestiegen. Blickt man auf das 20-Jahresmittel, das auch für die Klimaziele genutzt wird, ist die globale Oberflächentemperatur bisher um etwa 1,3 Grad Celsius gegenüber der Referenzperiode gestiegen, rechnet Zeke Hausfather in einem datenreichen Thread vor. Bei Carbon Brief heißt es über das erste Halbjahr 2024 unter anderem: Am 22. Juli wurde die höchste absolute globale Tagestemperatur aller Zeiten gemessen: 17,15 Grad Celsius. Hier wird von 63 Ländern ausgegangen, die ihren wärmsten Juni aller Zeiten erlebten; in den letzten 12 Monaten verzeichneten sogar 138 Staaten ihre heißesten Temperaturen aller Zeiten. Die Ausdehnung des antarktischen Meereises ist in den letzten Wochen fast auf das Rekordtief von 2023 gefallen. Der in der Westantarktis gelegene Thwaites-Gletscher, von dem befürchtet wird, er könnte aufgrund der menschengemachten Erderwärmung in einer Kettenreaktion kollabieren und schon bis Ende dieses Jahrhunderts den Meeresspiegel um bis zu einem Meter ansteigen lassen, zeigt sich neueren Forschungen immerhin stabiler als erwartet

#2 Zur Debatte um die Kipppunkte und die Schwierigkeiten, diese zu modellieren und vorherzusagen, wir hatten das unter anderem hier aufgegriffen, kommt hier ein Nachtrag:  Benjamin von Brackel hat sich nun auch die Ergebnisse der Forschungsgruppe um Maya Ben-Yami von der TU München vorgenommen - es geht um die Grundsatzfrage, »ob sich der Zeitpunkt für das Erreichen von Kipppunkten im Erdsystem überhaupt vorhersagen lässt«. Hier ist Skepsis angebracht; vor allem mangels ausreichend Datenpunkten. Mindestens 100 Jahre Messungen seien nötig, »um eine Extrapolation zu machen«, wird Ben-Yami zitiert, das würde noch rund 80 Jahre dauern. Auch Gerrit Lohmann vom Alfred-Wegener-Institut meint, aus Klimamodellen könne man höchstens Wahrscheinlichkeiten ableiten. Die Modelle würden zwar immer besser, bringen dann aber auch durchaus widersprüchliche Ergebnisse hervor, wie der Beitrag am Beispiel der AMOC zeigt, für die ein Szenario errechnet wurde, in dem es regional unterschiedlich zu abruptem Abreißen einerseits und Verstärkung andererseits kommt. Aber zurück zur Grundsatzfrage: Wer würde in ein Haus einziehen, das mit zehnprozentiger Wahrscheinlichkeit innerhalb eines Jahres abbrennt

#3 Wo nur Wahrscheinlichkeiten angegeben werden können, muss auch politisch mit Wahrscheinlichkeiten umgegangen werden können. Wir haben hierzu auch immer wieder Magnus Enzensbergers Vorschlag von 1973 zitiert, mit solchen Wahrscheinlichkeiten nach Art der Pascalschen Wette umgehen: »so lange die Hypothese nicht eindeutig widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht, ihre Aussagen zugrundezulegen. Nur wenn man sich so verhält, ›als ob‹ die ökologische Hypothese zuträfe, kann man sie auf ihre gesellschaftliche Dimension hin überprüfen«. Hinzu kommt: Die Klimakrise und die Überschreitung von Kipppunkten haben eine andere Zeitlogik, die Erde brennt nicht auf einen Schlag ab. (Zu sozialwissenschaftlichen Aspekten von Katastrophe und Zerfall haben wir hier einige Hinweise zusammengetragen.) Dies führt dazu, dass das Eintreten eines folgenreichen Ereignisses womöglich erst viel später überhaupt wissenschaftlich realisiert werden kann. Der Klimaforscher Niklas Boers von der TU-München wird mit den Worten zitiert: »Wir könnten den Kipppunkt überschreiten, aber bis wir das überhaupt realisieren, könnte es weitere zehn Jahre dauern.« Die epistemische Unsicherheit wird so über den möglichen Point of no Return von erdsystemischen Stabilitäten hinaus verlängert. Es könnte ratsam sein, sich die derzeit laufende Aufarbeitung der Corona-Krise auch vor diesem Hintergrund anzuschauen. Diese Aufarbeitung findet ja entgegen der schrillen Rufe empörungsbewirtschaftender Akteure nach Tribunalen und anderen Arten der die epidemische Massenunvernunft entlastenden Abrechnung mit anderen längst statt - mit nachholender Forschung, wissenschaftlicher Analyse von Folgen und Fehlern, und ja: auch öffentlicher Debatte. Der Jurist Klaus Ferdinand Gärditz hat dieser Tage auf ein Problem der Corona-Zeit verwiesen, das für die Klimakrise ebenso gilt: Der Wissenschaft als laufender, offener, sich selbst immer wieder in Frage stellender Prozess ist epistemische Unsicherheit geradezu eigen, politische Orientierung und Entscheidung verlangt aber nach Eindeutigkeiten. In dem so entstehenden Konflikt seien »Rechtfertigungskonflikte weitgehend in normative Risikoabwägungen verschoben« worden. »Durften unter galoppierenden Unsicherheitsbedingungen nach Vorsorgeprinzip bei Abwägung von Nutzen und Risiken bestimmte Maßnahmen getroffen werden?« In der Corona-Rechtssprechung seien dem Gesetzgeber »mit Recht weitreichende Einschätzungsspielräume zugestanden und nur die Plausibilität der zugrunde gelegten Prämissen überprüft« worden. 

#4 Wenn es plausibel ist, dass wir es mit einer recht hohen Wahrscheinlichkeit von Klimakrisenfolgen zu tun haben, die in absehbarer Zeit gravierende Bewohnbarkeits- und Überlebensfragen aufwerfen - dann geht es nicht nur um Einschätzungsspielräume, sondern um Entscheidungen, Handeln, Umsetzung. In einer umfangreich angelegten Studie hat eine Forschungsgruppe rund 1.500 Klimaschutzmaßnahmen zwischen 1998 und 2022 in 41 Staaten analysiert. Medienberichte darüber sprechen von einer ernüchternden Bilanz: »In nur 69 Fällen kam es zu einer größeren CO2-Ersparnis, die nicht auf externe Einflüsse zurückzuführen war. Meist blieb die Klimapolitik demnach eher wirkungslos.« Wo dies anders war, könnten sich »Durchbrüche« meist weder den politisch umstrittenen Grundpositionen »Markt-gesteuert« oder »staatliche Regulierung« zugeordnet werden; in der Regel gehe es um den »richtigen Mix von Instrumenten«; wobei bei den in der Studie analysierten Erfolgsfällen stets ein Preisinstrument enthalten gewesen sei. Apropos Entscheidungen: Der Klima- und Transformationsfonds, aus dem ein Großteil der Klimaschutzmaßnahmen auf Bundesebene finanziert wird, muss ab 2025 mit deutlich weniger Mitteln auskommen. Berichte zu dieser Folge der Beteiligung der FDP an einer Regierung und ihrer politischen Entfesselung durch Übertragung des Finanzministeriums finden sich hier und hier und vor allem hier. Es gibt sicher viele Ursachen für dieses offenkundige Versagen; das reicht von der geistigen Fallhöhe freidemokratischer Weltsicht (Schuldenbremse!) bis zu parteipolitischen Rahmenbedingungen (Wahlkampf), und natürlich wirken sich hier auch Konstruktionsfehler und systemische Rahmenbedingungen aus. All das aber findet nicht im luftleeren Raum statt. Die UNO warnt, von den fossilen Brennstoffkonzernen gehe derzeit eine »massive Desinformationskampagne« aus mit dem Ziel, Energiewende und Dekarbonisierung der Produktion zu verzögern. Der WZB-Forscher Dieter Plehwe verweist auf »wirtschaftliche Interessen, zum Beispiel von Konzernen aus der Energie- und Automobilbranche. Es gibt aber eine ganze Reihe von Verbänden, Thinktanks und sogar Politikern, die daran beteiligt sind« - keine große Überraschung ist es, das da FDP-Vertreter genannt werden. Mit dem globalen Netzwerk aus Desinformation und Lobbyismus befasst sich auch eine der neueren Kolumnen von Christian Stöcker. Mit »populistischen Narrativen im Bereich der Umweltpolitik« befasst sich auch ein Papier des Umweltbundesamt vom Februar 2024, das dieser Tage noch einmal medial aus dem Schatten geholt wurde. Darin werden »sieben populistische Narrative identifiziert, die Umweltpolitik delegitimieren« - vom »Narrativ einer inszenierten Klimakrise«, dem der »geplanten Deindustrialisierung«, die absichtlich »zu Lasten des Volkes« gehe, für dieses eine »Freiheitsberaubung« darstelle und »Wider gesunden Menschenverstands« von »ideologiegetriebenen Eliten« vollzogen wird, die dabei den Nationalstaat von außen kommenden Bedrohungen aussetzen. Dass in dem Papier von »populistischen« Erzählungen die Rede ist, heißt nicht, dass diese auch von Parteien verstärkt werden, für die »Populisten« immer nur die anderen sind. Aber allein die Überschriften des UBA-Papiers klingt wie eine Kurzzusammenfassung gegenwärtiger Wahlkampfparolen, wo die CDU »Meine Heizung. Mein Auto. Meine Freiheit« plakatiert und das BSW gegen »vermeintliche Klimapolitik« zu Felde zieht, durch die »unserem Land der Verlust wichtiger Industrien« droht. 

#5 Eine aktuelle Forschungsarbeit geht der Frage nach, warum der Berliner Volksentscheid für Klimaneutralität bis 2030 scheiterte. Bei der Abstimmung im März 2023 hatten zwar 50,9  Prozent für das Anliegen votiert, aufgrund der geringen Beteiligung (knapp 36 Prozent) wurde aber das Zustimmungsquorum von 25 Prozent verfehlt. Philipp Thomeczek hat dazu eine Nachbefragung ausgewertet: Die individuelle Entscheidung, sich an der Abstimmung zu beteiligen, wurde demnach positiv »durch einen hohen instrumentellen (hohe Wichtigkeit des Themas) und expressiven Nutzen (internalisierte Wahlnorm)« beeinflusst. »Diejenigen, die die Umsetzbarkeit Berliner Entscheide anzweifeln und nicht an der vorangegangenen Abgeordnetenhauswahl teilgenommen hatten, haben sich hingegen in geringerem Maße an der Abstimmung beteiligt.« In einem X-Thread werden zentrale Ergebnisse vorgestellt, eines lautet: »Die Entscheide zu Offenhaltung von Tegel und Deutsche Wohnen & Co. enteignen waren erfolgreich, aber wurden (noch) nicht umgesetzt. Das hinterlässt wohlmöglich Spuren. Wer die Umsetzbarkeit kritisch sieht, beteiligt sich in geringerem Maße.«

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