Klimanotizen 54
Der Juni mit neuen Rekorden. Während Experten besorgt sind, »dass wir nicht wissen, wie schlimm die Dinge wirklich sind«, geht die Debatte um Ergebnisse der Klimaforschung ebenso weiter wie die um Wachstum und Degrowth. Außerdem: Erdüberlastungstag, Hitlers Tempopolitik und Chinas Energiewende.
#1 Wo stehen wir? Laut Korean Air haben sich die Turbulenzen auf den Flügen des Konzerns seit 2019 verdoppelt. Dass es aufgrund der Klimakrise wilder zugeht in der Atmosphäre, ist bekannt, sagen Fachleute wie Paul Williams - aber laut ihm ist das diesbezüglich das erste Eingeständnis einer Fluggesellschaft. Der Klimatologe Maximiliano Herrera sammelt Nachrichten über extreme Wetterereignisse; eines der »extremsten«, die je registriert wurden, könnte sich in Paraguay ereignet haben, wo in Filadelfia mitten im Winter eine Nachttemperatur von 29,7 Grad Celsius verzeichnet worden sei. Weitere Hitzerekorde finden sich auf seinem X-Account. Die US-Gesundheitsexpertin Kristie Ebi schätzt, dass die bisherigen Annahmen über die Zahl der Hitzetoten in den Vereinigten Staaten - jährlich etwa 1.200 - deutlich zu niedrig angesetzt sind; wahrscheinlich sind es zehnmal mehr. Wie die Arbeitsorganisation ILO berichtet, verlieren immer mehr Beschäftigte den Kampf gegen Hitzestress. Von 2000 bis 2020 hat sich die Zahl der Beschäftigten, die Hitzewellen ausgesetzt waren, um 66 Prozent auf 231 Millionen erhöht.
#2 Laut dem US-Klimaanalyseinstitut Berkeley Earth war der Juni mit der wärmste Juni seit Beginn der Wetteraufzeichnungen für Land, Ozeane und den gesamten Globus; die Temperaturen lagen auf das Jahr bezogen um 1,6 Grad Celsius über dem vorindustriellen Niveau. Der Rekord lag dabei um 0,14 Grad über dem vorigen, »ein relativ großer Abstand, der deutlich außerhalb des Unsicherheitsbereichs liegt«. Zur Erinnerung: Es handelt sich hier um global gemittelte Werte; für die Bundesrepublik geht Berkeley Earth von einer bereits erreichten Erwärmung von plus 2,5 Grad Celsius (2022) aus; passiert weiter zu wenig, könnten plus 3,8 Grad Celsius in 2100 erreicht werden. Bekannt ist, dass über 1,5 Grad Erwärmung das Risiko der Überschreitung von Kipppunkten steigt. Forscherinnen um Johan Rockström haben jetzt untersucht, wie sich das bei vier miteinander verbundene Kippelementen unter verschiedenen Emissionsszenarien verhält: je länger die 1,5-Grad-Schwelle überschritten wird und je höher die Spitzentemperatur sein wird, umso größer das Risiko. Im pessimistischen Szenario, das die aktuelle Klimapolitik fortschreibt, geht die Studie von einer globalen Erderhitzung um 3,3 Grad Celsius Ende des Jahrhundert aus; danach fällt sie zwischen 2100 und 2300 wieder unter die 1,5-Grad-Marke in diesem Szenario liegt das Risiko, dass Kipppunkte bis 2300 überschritten werden, bei 45 Prozent. Es sei »von größter Bedeutung, bis 2100 mindestens Netto-Null-Treibhausgasemissionen zu erreichen und aufrechtzuerhalten. Unsere Ergebnisse unterstreichen, dass strikte Emissionsreduzierungen im laufenden Jahrzehnt für die Stabilität des Planeten von entscheidender Bedeutung sind«, heißt es in dem Papier. In einer Studie von Forscherinnen um Maya Ben-Yami werden die Unsicherheiten untersucht, die mit der Methode verbunden sind, anhand Beobachtungen über die Vergangenheit die abnehmende Systemstabilität zu untersuchen. Es geht darin unter anderem um grundsätzliche Probleme von Modellannahmen, Repräsentativität und Umgang mit Beobachtungsdatensätzen, aufgrund derer die Bestimmung eines Zeitpunktes nicht zuverlässig möglich ist. Beim Science Media Center werden die Ergebnisse dieser Studie diskutiert.
#3 Besonderes Augenmerk erfährt in der von Ben-Yami und anderen vorgelegten Studie die Atlantische Umwälzzirkulation und die viel diskutierte AMOC-Studie von Susanne und Peter Ditlevsen. Die hatten für den Kollaps der für die Wärmeversorgung der Nordhalbkugel sehr wichtigen AMOC ein Zeitfenster zwischen 2025 und 2095 prognostiziert - was zu viel Gegenrede Anlass gab, die Schlussfolgerungen seien absolut unhaltbar. Nun gibt es eine neue Studie von Forscherinnen um Emma J. V. Smolders dazu, die ein anderes Herangehen wählt und unter anderem mit Salzgehaltsdaten in der Nähe der südlichen Grenze des Atlantiks modelliert. »Der Zusammenbruchszeitpunkt wird auf 2037–2064 (10–90 Prozent Konfidenzintervall) mit einem Mittelwert von 2050 geschätzt, und die Wahrscheinlichkeit eines AMOC-Zusammenbruchs vor dem Jahr 2050 wird auf 59 ± 17 Prozent geschätzt.« Das liegt in dem Bereich, den auch die umstrittene 2023er Studie ermittelt hat; Smolders und andere schreiben dazu, die Übereinstimmung der Kippzeitschätzungen könnte rein zufällig sein. Und: Um zu den Ergebnissen zu gelangen, dafür »wurden mehrere Annahmen getroffen, die einer weiteren Begründung bedürfen«. Dem Klimaexperte Roger Harrabin macht derweil Angst, »dass wir nicht wissen, wie schlimm die Dinge wirklich sind«. Die Forschung habe zwar »große Fortschritte beim Verständnis des zukünftigen Klimas gemacht«; doch ebenso »ein schmerzhaftes Geständnis abgelegt: Selbst ihre ausgefeiltesten Modelle können noch nicht genau vorhersagen, wie die Erdsysteme auf diese höheren Temperaturen reagieren werden.« Die Zivilisation werde auch in Zukunft existieren, aber unter viel schlechteren Lebensbedingungen. »Was für eine degradierte Zivilisation könnte das sein?«, fragt Harrabin und bringt »Imaginatoren« ins Spiel, die sich neben der Klimaforschung darüber Gedanken machen - damit Politiken der Anpassung und Resilienz in die richtige Richtung laufen.
#4 Weltweit werden jedes Jahr deutlich mehr Ressourcen verbraucht, als die Erde hergibt. Der »Erdüberlastungstag«, der auf diesen Umstand hinweist, lag 2024 schon am 1. August und damit einen Tag früher als im vergangenen Jahr, wie etwa hier berichtet wird. Die FAZ macht auf die immer wieder formulierte Kritik am Berechnungs- und Schätzsystem aufmerksam, das vom Global Footprint Network genutzt wird, unter anderem an der Fixierung auf den Flächenverbrauch. Beim »Erdüberlastungstag« geht es aber weniger um wissenschaftliche Methodenfragen als um den Versuch, eine nicht zu bestreitende Tatsache in die Öffentlichkeit zu bringen: Wir leben über die planetaren Verhältnisse. Dabei sind mehrere Ungleichheitsdimensionen zu beachten. Es gibt Länder, in denen der Erdüberlastungstag schon im Februar erreicht wird, andere kommen bis November mit den Ressourcen, für Deutschland waren die erneuerbaren Ressourcen bereits Anfang Mai verbraucht. Außerdem fällt in den jeweiligen Staaten der Beitrag der Menschen zur Erdüberlastung unter anderem nach sozialer Lage unterschiedlich aus. Eine dritte Ungleichheitsdimension entfaltet sich entlang der Zeit, hier wird der Begriff der »Verschuldung beim Planeten« dafür bemüht, um darauf aufmerksam zu machen: »Sie bedeutet zum Beispiel, dass ein Mensch, der heute auf die Welt kommt, auf Arten wird verzichten müssen, inklusive ihrer Dienste für die Ökosysteme. Oder dass er in einem heißeren Klima wird zurechtkommen müssen, mit allen Folgen für Gesundheit, Sicherheit, Wasser- und Nahrungsmittelversorgung.« In China übrigens war der Erdüberlastungstag am 1. Juni. Adam Tooze begründet hier seine Ansicht, warum die Zukunft der Menschheit in Chinas Händen liegt: Dort steige die Energie-Nachfrage »kontinuierlich weiter. Obwohl das Regime seit einigen Jahren den Bauboom zu bremsen versucht und die Wirtschaft sich insgesamt etwas entschleunigt hat, bleibt das Wachstumsziel bei fünf Prozent. 30 Prozent der chinesischen Bevölkerung leben noch auf dem Land, der Markt für Konsumgüter wie Autos und Klimaanlagen ist also noch lange nicht gesättigt. Das schafft für die Dekarbonisierung in China Herausforderungen in einer ganz anderen Dimension, als wir das aus dem Westen kennen. Die Europäer und Amerikaner machen zwar eine Energiewende durch, doch bei uns sinkt aufgrund des langsamen Wachstums und der Effizienzsteigerung Jahr für Jahr die Nachfrage nach Energie. Wir müssen die bereits stagnierende Emissionskurve nur schneller nach unten biegen. China hingegen muss eine Haarnadelkurve hinbekommen.« Bis zu 30 Prozent des neu anfallenden Energiebedarfs sollen, so Tooze, »bis 2030 durch weiteren Ausbau von fossilen Kraftwerken gedeckt werden. Wenn diese konservative Planung sich in den nächsten Monaten durchsetzen sollte, wäre es für die chinesische und damit für die globale Klimapolitik ein Desaster. Andersherum: Im gegenwärtigen Eiltempo, mit einer Ausbaugeschwindigkeit der Erneuerbaren bei über 300 Gigawatt im Jahr, ist die chinesische Energiewende vielleicht zu schaffen.« Immerhin: Das Analyseunternehmen Rystad Energy prognostiziert, dass die Photovoltaik bis 2026 Chinas wichtigste Energiequelle sein wird. Im Juni überstieg die installierte Photovoltaik- und Windkraft-Leistung erstmals die Kohlekapazitäten des Landes.
#5 Übrigens: 1961 lag der globale Ressourcenverbrauch gemessen mit den Methoden des Footprint Networks bei 0,73 Erden. Es blieben seinerzeit also Reserven übrig, die Weltbevölkerung war aber auch um mehr als die Hälfte kleiner. Seither ist alles gewachsen und zwar über die planetaren Grenzen hinaus. Dabei sind globale Ungleichheiten verschärft worden, die es nachvollziehbar erscheinen lassen, zumindest in einem Teil der Welt Aufholprozesse für gerecht zu halten. Jason Hickel and Dylan Sullivan warnen hier allerdings davor, dass diese Aufholprozesse auch Nachahmerprozesse werden: Würde man, um überall Armut zu beenden und ein gutes Leben für alle zu ermöglichen, überall das Pro-Kopf-BIP-Niveau erreichen, das derzeit die Länder mit hohem Einkommen kennzeichnet, würde dies eine »Steigerung der weltweiten Gesamtproduktion und des Ressourcenverbrauchs um ein Vielfaches erfordern, was den ökologischen Zusammenbruch dramatisch verschärfen würde«. Also stelle sich die Frage: »Wie viel Wachstum ist nötig, um ein gutes Leben für alle zu erreichen?« Im Grunde geht es in der Studie aber um etwas anderes: Was für ein Wachstum ist nötig? Hickel und Sullivan plädieren für eine Steigerung spezifischer Produktionsformen, »die notwendig sind, um die Fähigkeiten zu verbessern und die menschlichen Bedürfnisse auf hohem Niveau zu erfüllen, während gleichzeitig durch öffentliche Versorgung und Entkommerzialisierung ein universeller Zugang zu wichtigen Gütern und Dienstleistungen sichergestellt wird. Gleichzeitig sollte in Ländern mit hohem Einkommen die weniger notwendige Produktion zurückgefahren werden, um eine schnellere Dekarbonisierung zu ermöglichen und den Ressourcenverbrauch wieder innerhalb der planetaren Grenzen zu halten.« Laut ihrer »Bedarfsanalyse« wären nur 30 Prozent des derzeitigen globalen Ressourcen- und Energieverbrauchs erforderlich, um 8,5 Milliarden Menschen einen angemessenen Lebensstandard zu bieten, und »ein beträchtlicher Überschuss für zusätzlichen Konsum, öffentlichen Luxus, wissenschaftlichen Fortschritt und andere soziale Investitionen« bliebe sogar noch übrig. Christoph Deutschmann hat unterdessen lesenswerte Überlegungen aus wirtschaftssoziologischer Sicht zur Diskussion um Degrowth beigesteuert. Darin werden zunächst die Konzepte Wirtschaftswachstums und des Wachstumszwangs auf den Prüfstand gestellt. Degrowth sieht Deutschmann skeptisch: »Die erforderlichen demokratischen Mehrheiten für die tiefgreifenden eigentumsrechtlichen Veränderungen, die eine nicht länger auf Wachstum gepolte Wirtschaft erfordern würde, sind weit und breit nicht in Sicht. Auch eignet sich das Konzept kaum als Strategie für den Übergang zur Klimaneutralität, der vielmehr Investitionen in heute noch nicht abschätzbaren Größenordnungen erfordert, mithin das Gegenteil von Degrowth.« Und dann kommt eine Pointe: »Ob man es für wünschenswert hält oder nicht: Degrowth ist eine Realität, die freilich durch strukturelle Faktoren verschiedener Art bedingt ist und nur am Rande mit der Klimakrise zu tun hat.« Deutschmanm verweist hier unter anderem auf die Folgen wachsender Ungleichheit der Vermögen und Einkommen, welche soziale und unternehmerische Aufwärtsmobilität hemmt; außerdem auf demografische Trends, die ebenfalls Wachstums bremsen. Dort wo die Bevölkerung noch zunimmt, würden »Wachstumschancen durch autoritäre und korrupte politische Regimes und exzessive Ungleichheiten der Einkommens- und Vermögensverteilung begrenzt«. Deutschmann sieht es vor diesem Hintergrund »in einer absehbaren Zukunft« als möglich an, dass eine Situation entsteht, »in der der in der kapitalistischen Verfassung der Eigentumsrechte angelegte Wachstumsimperativ kaum mehr eingelöst werden kann. Es wird dann nach neuen institutionellen Lösungen gesucht werden müssen, um die Wirtschaft auch dann in Gang zu halten, wenn sie nicht mehr wächst und keine Profite mehr abwirft. So könnten der Öko-Sozialismus, aber auch andere nichtkapitalistische Modelle der Wirtschaft, am Ende doch eine Chance bekommen.« Und wie sollen diese funktionieren? Dazu macht Max Koch in einem neuen Artikel Anmerkungen, der sich vor allem Planungsfragen zuwendet: Degrowth-Gesellschaften müssten demnach drei Maßnahmen ergreifen, »um die Komplexität der Arbeitsteilung zu reduzieren, die sozialistische Planungsversuche untergrub« - den »Überschusssektor« der Produktion sofort auslaufen lassen; pragmatische Mischungen aus Ex-ante-Planung (unterstützt durch digitale Lösungen) und Ex-post- oder Marktregulierung des »Zwischensektors« entwickeln; Einsatz digitaler Werkzeuge, um verschiedene Ebenen der Regierungsführung und die damit verbundenen Planungsaktivitäten (lokal, national, regional, global) miteinander zu verbinden.
#6 Thomas Steinfeld erinnert an einen Text von Leon Brick im »Merkur«, der tief in die Geschichte der deutschen Tempolimit-Debatte eingetaucht ist: Sie beginnt 1933; Hitler stellte damals ein Konjunkturprogramm vor, das unter anderem die Freigabe der Höchstgeschwindigkeit auf allen Straßen beinhaltete. »Die intensive Förderung gerade unserer modernsten Verkehrswirtschaft«, sei abhängig von »der vollen Freizügigkeit eines Volkes, sich ihrer zu bedienen«, wird Hitler zitiert - der Automobilismus war seinerzeit nicht zuletzt gegen die Weimarer Republik (Tempolimit von 30 km/h auf allen Straßen), sondern auch das »bolschewistische Kollektiv mit seiner Neigung zur Eisenbahn« gerichtet. Mit der »Freizügigkeit« war es sechs Jahre später aber wieder vorbei, so Steinfeld: »weil dabei, wie der ›Führer‹ erklärte, genau so viele Menschen ums Leben gekommen seien, wie der Deutsch-Französische Krieg der Jahre 1870/71 an Toten unter den eigenen Soldaten gefordert hatte. Dass man die Ressourcen, die durch den Individualverkehr verzehrt wurden, bald an der Front brauchte, mag hinzugekommen sein.«