Klimanotizen 52
Welcher Esel ist gemeint, wenn alle auf die Grünen eindreschen? Analysen zur Europawahl, deren Ergebnisse von regressiver Abwehr des Wandels und Adiaphorisierung künden und an Axel Honneths »Verwilderungen des sozialen Konflikts« denken lassen. Sowie: Gibt es ein ostdeutsches Anthropozän?
#1 Wo stehen wir? Vor einem großen Haufen Analysen zum Ausgang der Europawahl, deren schwerwiegendste Folge die »Süddeutsche« (anlässlich der vom Europäischen Rat beschlossenen »Strategischen Agenda«) so formuliert: »markiert die Abkehr von der ambitionierten Klimapolitik«. Das führt zurück zu unserer unter anderem hier dargelegten Skizze, den Kern des »Rechtsrucks« vor dem Hintergrund blockierter, kulturell überdeterminierter Transformationskonflikte zu betrachten. Was parteipolitisch Ausdruck findet (der Erfolg wohlstandschauvinistischer Weiter-so-Versprechen) hängt mit der Schwierigkeit zusammen, die Integrationsprobleme moderner Gesellschaften auszutarieren. Mit dem, was man »ökologische Integration« nennen könnte, werden dabei auch andere Momente von »Modernisierung« regressiv verknüpft. Jens Kastner verweist in seinem kurzen Überblick über mögliche kritische Analyseansätze auf »die Abwehr des sozialen Wandels« schlechthin, die hier Raum greift und erinnert an Überlegungen von Georg Lukács, Drehli Robnik, Max Horkheimer, Leo Löwenthal und Rahel Jaeggi. Letztere hat die »Blockade von Problemlösungen in ihrem aktuellen Buch ›Fortschritt und Regression‹ als zentrales Charakteristikum für die Kehrseite des Fortschritts, die Regression beschrieben. Es geht in gesellschaftlichen Entwicklungen immer um Prozesse der Problemlösung. Fortschritt geht Probleme an (auch wenn offen ist, wo es langgehen soll), Regression blockiert sie.« Dabei ist Regression »kein einfaches Zurück zu früheren Maßstäben und Lebensweisen, sondern die Abwehr von Veränderungen, die sozialer Wandel mit sich bringt. Regression ist die Verleugnung der Tatsache, dass sich frühere hegemoniale Familienstrukturen, Staatsbürgerschaftsgesetzgebungen und Geschlechtsidentitäten in den veränderten Arbeits- und Kommunikationsverhältnissen nicht aufrechterhalten lassen«. Und, wäre anzufügen, die diese rahmendes fossilistisches Paradigma. Es geht um die Verteidigung einer Privilegierung, die mit einer »Adiaphorisierung« einhergehe, wie das Zygmunt Bauman nannte, das Ausschalten der moralischen Empfindung anderen gegenüber. »Selbst die desaströsen Effekte der Klimakatastrophe, die noch viel mehr Menschen direkt betreffen, werden ausgeblendet«, so Kastner.
#2 Alan Posner hat mit Blick auf die Grünen die Frage aufgeworfen, »welcher Esel gemeint ist, wenn alle auf die Grünen eindreschen; wer bestraft werden soll, wenn die Grünen als Prügelknabe funktionieren; wessen Sünden auf die Partei geladen und in die politische Wüste geschickt werden sollen. Und die Antwort lautet: Mit der exzessiven Kritik an den Grünen wird genau jene Moderne exorziert, für die sie mehr als jede andere Partei stehen. Man kann es nämlich drehen und wenden, wie man will: Das fossile Zeitalter geht seinem Ende entgegen… Das Gleiche gilt für die Herrschaft des Mannes, zumal des weißen Mannes… Wenn die Grünen nicht mehr Mainstream sind, so ist das ihr Problem; dass die Moderne nicht mehr Mainstream ist, das ist unser Problem… Sehnsucht nach früher statt Hoffnung auf morgen«. Hierzu bietet sich eine Erinnerung an Axel Honneths »Verwilderungen des sozialen Konflikts« an, Gedanken über »Anerkennungskämpfe zu Beginn des 21. Jahrhunderts«. In dieser Relektüre Parsons von 2011 werden die gegenwärtigen, moralisch aufgeladenen, oft emotional ins Überzogene gesteigerten Entäußerungen von erfahrenen oder geglaubten Anerkennungsdefiziten verständlich: die Chancen, Anerkennung in der Ökonomie (Lohnarbeit, Berufsrollen, Einkommen) zu beziehen, sind eher schlechter geworden; die Erläuterungen Honneths zur Krise des Anerkennungs-Teilsystems »Gleichheit vor dem Recht« laufen auf das Thema Migration hinaus, das ist seither ebenfalls (wieder und noch) stärker im Vordergrund, begleitet von den schiefen und gemeinen Fehlverarbeitungen in der Bevölkerung. Schließlich und vor allem: die Erosion der Vaterrolle als lange Zeit wirksame Ressource der Kompensation von Anerkennungsdefiziten im Teilbereich Ökonomie. In verkehrter Form ein Grundtenor heutiger Wutbürgerei gegen Frauen in Politikämtern (Baerbock, Lang), der gratismutige »Widerstand« gegen »Wokeism« und so fort. Es steckt in dem Ganzen natürlich auch eine Geschichte der Widersprüche, die mit Fortschritt einhergehen - die Ursachen und Kräfte, die zur Erosion der Vaterrolle (Feminismus, gesellschaftliche Modernisierung, Gleichberechtigung) wie auch zur Deinstitutionalisierung der Familie (Übernahme von Sorge und Sicherheit durch öffentliche Systeme) führen, wird man in der Tendenz allesamt gutheißen. Erweitert ließen sich Honneth bzw. Parsons durch die Brille des Planetaren Paradigmas lesen: hier betrachtet als veränderte Rahmenbedingungen von Anerkennungsressourcen. In der »Familie« wirkt eben nicht nur die Erosion der Vaterrolle, sondern generell eine Erosion von Traditionen (Essen, Autokultur, Wohnen), wobei die Modernisierung unter einem »physikalischen Sachzwang« steht, was auf die subjektive Erfahrung von Anerkennungsdefiziten verschärfend wirkt. Im Bereich der Ökonomie wäre an die mit Dekarbonisierung (und Digitalisierung) einhergehenden Transformationen von Berufsstatus, anknüpfend Einkommen usw. zu denken. Und schließlich auch mit Blick auf das Rechtssystems: Das muss im »Planetaren Paradigma« neue Widersprüche verarbeiten (Gegenwart-Zukunft-Konflikte, heutige versus künftige Freiheit, Herausforderungen für Gleichheit und das Recht, Rechte zu haben durch klimakrisenbedingte Migration usw.)
#3 An dieser Stelle noch ein paar Hinweise: Andrés Rodríguez-Pose ua. haben Nischen anti-grüner Unzufriedenheit analysiert und einen analytischen Rahmen zur Identifizierung und Bewertung der regionalen Auswirkungen des grünen Wandels vorschgeschlagen - als regionalen Vulnerabilitätsindex als Maß für die regionale Anfälligkeit europäischer Regionen gegenüber den durch den grünen Wandel ausgelösten sozioökonomischen Veränderungen. Die Studie ist deshalb interessant, weil sie den Horizont der »Betroffenheit« über den deutschen Tellerrand hinaus auf europäische Ebene erweitert. Das IW Köln hat unter anderem hier und hier den Zusammenhang von Transformationsregionen und AfD-Erfolg diskutiert - ausgehend von einem Modell von »Transformationsregionen«, die durch eine hohe Beschäftigungsquote in energieintensiven Branchen oder der Automobilindustrie bzw. durch eine hohe Anzahl emissionsintensiver Anlagen sowie des Beschäftigungsanteils in der Produktion traditioneller Automobil-Antriebe charakterisiert sind, werden die dortigen AfD-Wahlergebnisse untersucht. Nicht sehr überraschend: Sind Industrieregionen vom Strukturwandel betroffen, fällt die Neigung zu der Partei besonders hoch aus. Eine an der Uni Jena angesiedelte Untersuchung ergänzt die gängige These, dass vor allem die Einwohnerinnen und Einwohner wirtschaftlich abgehängter Orte und Regionen rechte Parteien wählen um eine wichtige historische Dimension: Hohe Stimmanteile der AfD in den vergangenen beiden Bundestagswahlen sind mit einem langfristigen Rückgang des relativen Wohlstands einer Region zu erklären. Der empfundene Bedeutungsverlust solcher scheinbar abgehängten Orte geht zeitlich oft weit über die eigene Lebensspanne hinaus. Es ist davon auszugehen, dass bei der Wahl von rechten Parteien eine Art von kollektivem Gedächtnis eine Rolle spielt. Offenbar spielt der Vergleich des eigenen Status mit anderen Regionen eine entscheidende Rolle, denn prinzipiell habe der Wohlstand in allen Regionen zugenommen. Der Unmut ist offensichtlich besonders groß, wenn man weiß, dass es »für die eigene Region« wesentlich bessere Zeiten gegeben hat. Zu einem ähnlichen Ergebnis ist Lutz Schneider bereits bei einer regionalen Analyse der Bundestagswahlen 2017 gekommen: Der Erfolg der AfD lässt sich auch mit negativen Auswirkungen einer schrumpfenden Beschäftigung im verarbeitenden Gewerbe erklären. Dieser politische Effekt einer schrumpfenden Beschäftigung ist in Regionen mit vitaler industrieller Tradition besonders stark. Die durchgeführte Regression bestätigt, dass Regionen, die in den 1930er Jahren durch einen hohen Anteil an Beschäftigten in der verarbeitenden Industrie gekennzeichnet waren und die heute einen starken Rückgang der industriellen Beschäftigung verzeichnen, deutlich höhere Wahlergebnisse für die AfD haben. Schon etwas älter ist eine Studie des Mercator Forum Migration und Demokratie an der TU Dresden, die zu dem Ergebnis kommt: Je stärker eine deutsche Region in den vergangenen drei Jahrzehnten von Abwanderung betroffen war, desto besser schneidet die AfD dort bei Wahlen ab. Dieser Effekt lasse sich unabhängig von Faktoren wie Bevölkerungsdichte, Siedlungstyp, Altersstruktur, Arbeitslosenquote, Bruttoinlandsprodukt oder dem Anteil an Hartz-IV-Empfängern beobachten. Schon etwas älter, aber sehr aufschlussreich ist auch eine Studie von Stefan Schmalz ua.: »Abgehängt im Aufschwung. Demografie, Arbeit und rechter Protest in Ostdeutschland« von 2021. Es geht darin nicht zuletzt um den oft unberücksichtigten Faktor Demografie, um das Verhältnis zwischen Peripherien und ihrem Zentrum innerhalb Ostdeutschlands und um Veränderungen vor dem Hintergrund von sinkendem Fachkräfteangebot und Arbeitslosenquote was das Selbstverständnis der Beschäftigten angeht. Viele andere Veröffentlichungen wäre zu nennen.
#4 Wenn von Wahlergebnissen und den Veränderungen des Parteiensystems die Rede ist, wird meist vor allem auf die immer noch neu genannten Bundesländern verwiesen. Eine sehr interessante Überlegung steuern nun Elisabeth Heyne und Alexander Wagner aus kulturwissenschaftlicher Perspektive bei: »Gibt es ein ostdeutsches Anthropozän?« Dem in den meisten Analysen zum Anthropozän prägenden Nexus zum (westlichen) Kapitalismus stellen sie eine »Erkundung anthropozäner Existenzweisen« im Osten an die Seite. Ihr Interesse gilt dem »Schauplatz eines – für europäische Verhältnisse – Extrem-Extraktivismus«, der »von Chemie- und Umweltkatastrophen bis zur postfossilen Transformation und dem politischen Systemwandel« geprägt sei. Daran lasse sich »Entscheidendes für die Mensch-Umwelt-Interaktionen der Gegenwart ablesen. Insbesondere lässt sich das ostdeutsche Anthropozän anhand einzelner Orte und ihrer Rohstoffextraktion und Stoffproduktion betrachten, das Ganze also nach Stoffen sortieren: Kohle, Uran, aber auch Erdöl und die Produktion exemplarischer synthetischer Materialien und Stoffe.« Die an Beispielorten verdeutlichte Überlegung verweist einerseits auf die Ähnlichkeit nominalsozialistischer und kapitalistischer Reproduktionsweisen (fossilistisch, produktivistisch); zugleich auf Spezifika lokaler »industrieller Romantiken«, die verstärkt aufgerufen werden, wenn Transformationsprozesse verarbeitet werden (rückblickend: Treuhandpolitik, Deindustrialisierung; erwartend: Dekarbonisierung). »In vier Jahrzehnten DDR-Geschichte wurde das Land unter immensen Anstrengungen aufgerissen, umgegraben, zerwühlt und ausgekohlt; dabei kamen Braunkohle, Uranerz, Masthähnchen, radioaktiver Abfall und Geschichten aus Gruben, Stollen, Schächten und Köpfen, landeten in Öfen, Reaktoren, Grillrosten, anderen Gruben und anderen Köpfen. Dieser Transfer hat bis heute nicht aufgehört.«
#5 Und nun? » Ob langsameres Tempo beim Klimaschutz oder finanzielle Kompensation: Viele Wählerinnen und Wähler populistischer Parteien wird das vermutlich trotzdem nicht überzeugen. Der Klimaschutz spielt gerade in den politischen Debatten Ostdeutschlands seit Längerem nahezu keine Rolle«, meint Felix Ekardt, Leiter der Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik in Leipzig. Ändert sich das durch die zunehmende Präsenz der Klimakrise in Form von Unwettern, Hitzeereignissen usw.? Untersuchungen legen nahe, dass die Bevölkerung nach persönlichen Erfahrungen mit dem Klimawandel sensibler auf das Thema reagiert. Und die Politik? Eine aktuelle Studie von Tim Wappenhans ua. hat über 260.000 Pressemitteilungen europäischer Parteien untersucht und festgestellt, »dass extreme Wetterereignisse, abgesehen von den Grünen, die Aufmerksamkeit für Umweltprobleme nicht erhöhen.« Beim Science Media Center diskutieren Joris Lammers, Benjamin Krämer und Marcus Maurer die Ergebnisse. Abseits methodischer Fragen (reicht ein Blick auf Pressemitteilungen) ein die Expertinnen ein Tenor: Die Ergebnisse deuteten darauf hin, »dass die Parteien Gelegenheiten verpassen, die Bedeutung und Dringlichkeit des Themas besser zu vermitteln« (Lammers). Entscheidend sei »vor allem auch, ob eine Partei glaubt, mit besonders deutlicher Klimaschutzpolitik im Verhältnis zu anderen Parteien punkten zu können, insbesondere nach Extremwetterereignissen. Solange Klimaschutz als ›grünes‹ Thema gilt, können Parteien vermuten – nach der Forschungslage vielleicht nicht ganz zu Unrecht –, dass es vor allem einer etwaigen Grünen Partei nutzt, wenn sie das Thema sehr präsent hält« (Krämer). Dass im Europawahlkampf die Klimapolitik nur eine untergeordnete Rolle spielte, wenn dann in der Form regressiv motivierter Schuldzuweisungen (Verbote! Vorschriften!), passt dann hier und zu den Ergebnissen ganz gut dazu.