Klimanotizen 44
Manche Klimaexperten sind nur noch zu Sarkasmus fähig, kein Wunder, die Zeiten einer unkalkulierbaren Zukunft sind angebrochen. Derweil macht man sich hierzulande über »die Wirtschaft« Gedanken. Eine Debatte mit blindem Fleck: Alle reden vom Wachstum - aber keiner vom Wachstum.
#1 Wo stehen wir? »Herzlichen Glückwunsch, Menschheit. Euer Planetenexperiment verläuft wie vorhergesagt«, sagt Akshat Rathi von Bloomberg Green zu den neuesten Klimadaten. »Der Februar ist auf dem besten Weg, beispiellose Hitzerekorde zu brechen«, meldet der »Guardian«. Die globalen Temperaturwerte, die Copernicus vor einigen Tagen veröffentlicht hat, liegen 2,03 Grad Celsius über dem vorindustriellen Basiswert von 1850 bis 1900. »Beängstigend krass« nennt der Wiener Klimaprofessor Reinhard Steurer »das mediale Desinteresse über das, was da gerade passiert. Talkformate, Dokus, Pressestunden... müssten voll damit sein, hätten wir den Ernst der Lage annähernd erkannt.« Man neigt angesichts der Dynamik der Krise dazu, die Geduld von zum Beispiel Joel Hirschi vom UK National Oceanography Centre zu bewundern: »Den Erwärmungskurs, auf dem wir uns befinden, zu verlangsamen, zu stoppen oder umzukehren, ist so, als würde man den Kurs eines Supertankers ändern. Ergebnisse sind nicht sofort sichtbar, aber je früher wir Maßnahmen ergreifen, desto einfacher wird es für uns sein, Probleme zu vermeiden.« Wie lange sagen wir das schon?
#2 Es ist erst eine gute Woche her, dass die Studie zur Instabilität der Atlantischen Umwälzzirkulation für einige Schlagzeilen sorgte; inzwischen ist das aber offenbar auch schon Schnee von gestern. Lars Fischer greift bei Spektrum beides auf - die neuesten Zahlen zur globalen Temperaturanomalie und die AMOC-Kippunkte. »Beides klingt erst einmal nach den inzwischen üblichen generellen Warnungen vor dem Klimawandel«, aber: »die Situation hat sich verändert.« Denn womöglich »treibt ein bisher unbekannter Effekt die globalen Temperaturen zusätzlich in die Höhe«. Aber selbst ohne diese Zutat sind die beiden Momentaufnahmen - Temperaturrekorde und neue Erkenntnisse zur Instabilität der Atlantischen Umwälzzirkulation »das bisher klarste Warnsignal einer unkalkulierbaren Zukunft. Das Zeitalter des Klimawandels ist nicht bloß die Ära steigender Temperaturen, sondern das Zeitalter der bösen Überraschungen.« Da passt es gut, dass das Umweltbundesamt gerade das Papier »Kipppunkte und kaskadische Kippdynamiken im Klimasystem« veröffentlicht hat; es trägt klima- und sicherheitspolitische Risiken zusammen, die immer näher rücken, »da bisherige Klimaschutzmaßnahmen das Überschreiten dieser kritischen Punkte nicht ausreichend verhindern.«
#3 Bleiben wir noch kurz bei der AMOC. Unter der nun ja: saloppen Überschrift »Landwirtschaft hat's schwer, wenn Golfstrom kippt« wird auch in der Agrarszene darüber berichtet, was passiert, wenn der Golfstrom als »Zentralheizung Europas« Probleme bekommt: »Was passiert dann mit den Ackerkulturen hierzulande?« Bei der Antwort hilft dieser Blog von Germanwatch, der Expertenauffassungen zu sozioökonomischen Auswirkungen, Schäden und Verluste diskutiert - darunter eine Studie der OECD von 2021. »Etwa 58 Prozent der weltweiten Ackerflächen, die derzeit für den Weizenanbau geeignet sind, sowie 59 Prozent der Anbauflächen für Mais werden unbrauchbar«, wenn die AMOC abreißt. Zwar würde die für den Reisanbau geeignete Fläche dann zunehmen, doch das macht die Ertragseinbußen bei Weizen und Mais nicht wett. »Die Folgen für uns Menschen liegen auf der Hand: ein drastischer Anstieg der Preise für Brot und andere Grundnahrungsmittel, Hunger und Kaloriendefizite und vielleicht sogar eine Massenhungersnot.«
#4 Derweil macht man sich hierzulande über das Bruttoinlandsprodukt Gedanken. Nachvollziehbar, handelt es sich doch um einen zentralen Antriebsriemen für soziale Integration im Kapitalismus. Aber die Debatte hat blinde Flecke. Man könnte sagen: Alle reden vom Wachstum - aber keiner vom Wachstum. Zwar gibt es neben den populistischen Vorwürfen, die mit den Grünen identifizierte Energiewendepolitik führe angeblich zur Deindustrialisierung, auch eine sachliche Diskussion über die Frage, wie wirtschaftliches Wachstum wieder in Fahrt gebracht werden kann - durch nachfrageorientierte Politik, entsprechende Fiskalpolitik, Investitionen, die zugleich grünen Wandel beschleunigen usw. Dabei bleibt aber ein Punkt meist außen vor: Können wir uns und wieviel von solchem Wachstum planetar betrachtet überhaupt noch leisten? Die Sache ist so kompliziert wie grundsätzlich, wird man doch je nach Antwort zu völlig verschiedenen politischen Strategien kommen müssen. Abgesehen von einigen theoretischen Schwierigkeiten (Taugt das BIP als Indikatoren für Wohlstand?) und empirisch umstrittenen Fragen (In welchem Maße, in welcher Zeit und unter welchen Voraussetzungen ist relative und/oder absolute Entkoppelung von Wachstum und Treibhausgasemission möglich?) bestehen hier auch sehr tief reichende Unterschiede zwischen verschiedenen Paradigmen der Wirtschaftswissenschaften - standardökonomischem, postkeynesianischen und kapitalismuskritischen etwa, die auf die Wachstumsdebatte einzahlen. Arne Heise hat dieser Tage in eine im »Wirtschaftsdienst« dazu laufende Diskussion eingegriffen; sein Text systematisiert aber auch die unterschiedlichen Ansätze. Vom planetaren Standpunkt aus ist kein Szenario zu sehen, in dem die Volkswirtschaften des »globalen Norden« nicht mindestens vorübergehend deutliche Rückgänge beim BIP verkraften müssten, wenn klimapolitische Ziele unter Beachtung globaler Ansprüche anderer erreicht werden sollen. Man kann hier auch noch einmal die sehr erhellenden Berechnungen von Thieß Petersen von der Bertelsmann-Stiftung zur Entkoppelung zitieren: »Soll das reale Wirtschaftswachstum auch in den kommenden Jahren bei 1,25% pro Jahr liegen, müsste die Emissionsintensität jedes Jahr um durchschnittlich 11,3% sinken. Das wäre eine Vervierfachung der durchschnittlichen Veränderungsrate der vergangenen drei Jahrzehnte (-2,84 %). Falls die Emissionsintensität bis 2045 weiterhin mit der Rate der vergangenen drei Jahrzehnte schrumpft, erreicht Deutschland das Ziel der Klimaneutralität 2045 nur, wenn das reale BIP ab sofort jedes Jahr um durchschnittlich 7,23% schrumpft.«
#5 Worauf Heise im Ergebnis - mit einer skeptischen Beurteilung - hinweist, ist eine fundamentale Frage: Kann »der Zielkonflikt zwischen Ökologie und Ökonomie« vollständig aufgelöst werden oder werden auch weiterhin »in demokratisch verfassten Gesellschaften kurzfristige ökonomisch-soziale Ziele gegenüber längerfristigen ökologischen Zielen prioritär behandelt«. Bleibt man bei der Position, dass Letzteres keine Alternative darstellt, weil die unabsehbaren Folgen und Kosten die kurzfristige zu einer kurzsichtigen Perspektive macht, muss man darstellen können, wie Ersteres erreicht werden kann. Dies wiederum unter Beachtung von Vorzeichen, die je nach politischer Farbe andere sein werden. Aber, nur zum Beispiel: Linke, die der Überzeugung anhängen, dass dem Kapitalismus eine Wachstumslogik eingeschrieben ist, die der Lösung der planetaren Herausforderungen zuwiderläuft, müssten ihre systemtranszendierende Schlussfolgerung auch unter Beachtung des Zeitfaktors der Planetaren Krise bestimmen können. Wäre eine »Überwindung des Kapitalismus« noch rechtzeitig möglich? Die unterschiedlichen Optionen im Bereich der Debatten über Degrowth, Postwachstum usw. sind mit ähnlichen Herausforderungen konfrontiert: Machbarkeit, die auch globalen Gleichheitszielen entspricht, Ausformulierung von Wegen zum Ziel, Zeitfaktor. Selbst wenn man wie Heise dazu neigt, dass eine Konzentration darauf, »die Anpassungsfähigkeit und Resilienz unserer Gesellschaften zu erhöhen« das einzig verbliebene Richtige darstellt, weil man jene Klimaziele nicht mehr erreichen wird, die für eine gesellschaftliche Entwicklung unter »sicheren Bewohnbarkeitsbedingungen« nötig wären, stellte auch das eine fundamentale Vorentscheidung dar - die je nach dem zu ganz bestimmten, von anderen sehr unterschiedenen politischen Strategien, Prioritäten der Veränderung, Schwerpunkten der gesellschaftlichen Investitionen usw. führt. Oder, um nochmal Reinhard Steurer zu zitieren: Davon müssten »Talkformate, Dokus, Pressestunden…« voll sein, »hätten wir den Ernst der Lage annähernd erkannt.«