Klimanotizen 33

»Der Planet Erde brutzelt. Warum?« An wissenschaftlichen Informationen über den Klimawandel und seine Folgen mangelt es jedenfalls nicht. Müssen wir uns mehr mit  deliberate ignorance, also gewolltem Nichtwissen befassen? Und was hat es mit »utopischem Erinnern« und »planetarem Realismus« auf sich?

#1 Wo stehen wir? »Die globale Temperatur im aktuellen El Niño weist bislang auf eine starke Beschleunigung der globalen Erwärmung hin, deren wahrscheinlichste Erklärung ein Rückgang der vom Menschen verursachten Aerosole aufgrund der Reduzierungen in China und der Schiffsemissionen ist«, schreiben James Hansen und Kollegen unter der Überschrift »El Niño verpufft. Der Planet Erde brutzelt. Warum?« Der sprunghafte Anstieg der globalen Temperaturanomalie im September um plus 1,7 Grad im Vergleich zum Mittel der Jahre 1880 bis 1920 und um plus 0,5 Grad im Zeitraum der Instrumentendaten habe vor allem wegen seines Ausmaßes öffentliche Aufmerksamkeit erzeugt - aber weniger mit Blick auf die differenzierten Gründe. Hansen und Kollegen verweisen abermals auf den Mangel an Daten  über die Wirkung von Aerosolen; ein Rückgang der Luftverschmutzung mindert auch den Kühleffekt. Mitautor Leon Simons wird auch an anderer Stelle nicht müde auf das positive Energieungleichgewicht auf der Nordhalbkugel hinzuweisen (wobei »positiv« hier »negativ« ist, so wie beim Coronatest): »Um das Jahr 2014 begann die Menge der absorbierten Sonnenstrahlung rapide anzusteigen und übertraf die in den Weltraum ausgehende langwellige (thermische oder IR-)Strahlung.« Zuletzt hat sich dieses Ungleichgewicht verstärkt, was dafür sorge, »dass die globale Temperatur in absehbarer Zukunft noch weiter ansteigen wird«. Dies könnte zu mehr und schwereren Dürren führen. Wouter Peters hat zusammen mit Kolleginnen für das Jahr 2022 eine der Folgen gezeigt: Verringerung der Nettokohlenstoffaufnahme in der Biosphäre im Sommer in den Dürregebieten, in einigen kam es zusätzlich zu Waldbränden sogar zu einer »großflächigen Freisetzung von Kohlenstoff« durch Wälder. Diese Entwicklung müsse neu in die vorliegenden Klimapläne Europa einbezogen werden, in denen auf dem Weg zu Netto-Null-Treibhausgasemissionen auch die Kohlenstoffaufnahme durch Wälder ein Faktor ist, der aber womöglich durch die zunehmenden Folgen des Klimawandels dynamisch kleiner ausfallen wird. Die Weltorganisation für Meteorologie berichtet derweil, dass globale Wasserkreisläufe aus dem Gleichgewicht geraten. Der Klimawandel führe weltweit zu neuen Mustern extremer Überschwemmungen und Dürren, heißt es in einer Prognose, über die unter anderem hier berichtet wird. Mehr als die Hälfte der weltweiten Wassereinzugsgebiete und Wasserreservoirs wichen 2022 von normalen Bedingungen ab.

#2 In der »Washington Post« stellt Scott Dance eine aktuelle Studie über jene Orte vor, die am ehesten aufgrund des Erderhitzung an die Grenzen der Bewohnbarkeit kommen dürften: unter anderem Lahore in Pakistan, wo die Überlebensschwelle bis zur Mitte des Jahrhunderts für zwei oder drei Wochen im Jahr, in schlimmeren Szenarien für Monate, überschritten werden könnte. Auch in Al Hudaydah am Roten Meer im Jemen ist das zu erwarten. Die Studie sei die jüngste in einer Reihe von Forschungen, die davon ausgehen, »dass es eine Grenze dafür gibt, wie viel Hitze und Feuchtigkeit der menschliche Körper aushalten kann, und dass diese wahrscheinlich niedriger ist als bisher angenommen«. Eine andere Studie hatte gezeigt, dass die Temperaturgrenze, innerhalb der menschliche Körper die Fähigkeit haben, sich selbst abzukühlen, in rund 200 Wetterstationen weltweit bereits zeitweise überschritten wurde. Die Studie »unterstreicht, dass die schwerwiegendsten Auswirkungen des Klimawandels in den Ländern zu spüren sein werden, die am wenigsten zu seiner Entstehung beigetragen haben«. Eine neue Forschungsarbeit einer Gruppe um den Ökonomen Jun Rentschler von der Weltbank zeigt derweil, dass die Besiedlung von Überschwemmungsgebieten rund um die Welt zwischen den Jahren 1985 und 2015 kontinuierlich zugenommen habe. »Heute lebten mehr als doppelt so viele Menschen in besonders überflutungsgefährdeten Gebieten als noch vor vier Jahrzehnten. Das Wachstum in den am stärksten gefährdeten Gebieten falle sogar höher aus als das in den sicheren Gebieten«, berichtet die »Süddeutsche« über die Studie, deren Autorinnen resümieren: »Anstatt sich den Klimagefahren anzupassen, setzen sich ihnen viele Länder verstärkt und aktiv aus.«

#3 Ist das (auch) eine Folge von Ignoranz gegenüber den wissenschaftlichen Erkenntnissen? Mag sein, über strukturelle Hindernisse wird man wohl eher nachdenken müssen. Dennoch ist die Forschung des Kognitionswissenschaftlers Ralph Hertwig am Max-Planck-Institut für Bildungsforschung in diesem Zusammenhang von Belang: »Wer Informationen bewusst ausblendet, kann oft bessere Entscheidungen treffen«, heißt es hier in einem Überblick. Das Phänomen, das da erforscht wird, heißt deliberate ignorance, also gewolltes Nichtwissen. Unter anderem wurden dazu Menschen befragt, die auf eine Einsichtnahme in die vor mehr als 30 Jahren geöffneten Stasiakten verzichtet haben. Mehr als die Hälfte tat dies aus »Angst, aus diesen Akten Dinge zu erfahren, die sie sehr traurig, zutiefst enttäuscht oder zornig machen würden«. 2023 fragte das Leibniz-Institut für Medienforschung nach Meldungen, deren Kenntnisnahme vermieden wird. 45 Prozent sagten in dieser Untersuchung, sie vermieden Nachrichten über den russländischen Krieg gegen die Ukraine, immerhin noch 29 Prozent solche zum Thema »Soziale Gerechtigkeit« und 27 Prozent hören und schauen bei Meldungen zum Thema »Klimawandel und Umwelt« weg. Häufig gehe es dabei, so Hertwig, »um die Regulierung von Emotionen. Vor allem darum, möglichen negativen Gefühlen vorzubeugen«. Hilfreich mag das dann sein, wenn zu viel Wissen die Motivation bremst oder unnötige Angstzustände auslöse. Hilfreich ist es eher nicht, wenn es um den Klimawandel geht. Für die Frage nach gelingender Klimakommunikation scheint der nicht unbeträchtliche Anteil von Nachrichtenvermeiderinnen und Mitgemeinten allerdings ein bedenkenswerter Punkt und eine Herausforderung. 

#4 Üblicherweise wird Robert Pfaller als Kronzeuge gegen eine Linke aufgeführt, die sich zu sehr um Gendersternchen als Distinktionsinstrument und zu wenig um sozialdemokratische Wirtschaftspolitik gekümmert habe. Diese Sichtweise hat inzwischen eine ganze Publikationssparte hervorgebracht, die mehr oder weniger unterhaltsam die Behauptung vom »progressiven Neoliberalismus« (Nancy Fraser) variiert, zuletzt als »anti-woke« Geleitlektüre zu Parteigründungsplälnen, die fälschlich als links bezeichnet werden. Im Gespräch mit Harald Welzer findet die Argumentation nun auf die Frage der ökologischen Transformation Anwendung, was zu eher langweiligen (»Es wird nicht zielführend sein, die Bereitschaft von Oberlehrern zu Gemüseanbau und Fahrradfahren als allgemeines Leitbild zu propagieren.«) oder empirisch dünnen (»Während brutale Privatisierungen im Gesundheits-, Bildungs- und Infrastrukturbereich durchgesetzt, Austeritätspolitik aufgezwungen und Banken gerettet wurden, beschäftigte sich die Linke mit großem Eifer mit Fragen der Darstellung der Welt in Sprache, Film und Fernsehen.«) Äußerungen führt. An anderer Stelle kommt er auf bedenkenswerte Punkte zurück. Welzers Frage ob »die sozialökologische Transformation überhaupt ein realistisches Projekt« sei, beantwortet Pfaller mit der Sorge, »den sogenannten Realisten wird die Fantasie fehlen, die man braucht, um sich jene gewaltige Veränderung der Gesellschaft vorzustellen, die notwendig sein wird, um nachfolgenden Generationen ein erträgliches Leben auf diesem Planeten zu sichern, ohne dabei große Teile der Welt ins Elend zu stürzen«. Was ist »realistisch« in Zeiten der planetaren Krise? Alex Steffen hat unlängst für einen »planetarischer Realismus« plädiert. Es werde »immer noch als angemessen und sogar als normal angesehen, zu glauben, dass die biosphärischen Erschütterungen, die unseren Planeten erschüttern, eine interessante Tatsache sind, etwas, das uns interessieren kann oder auch nicht, so wie Baseball oder Beyoncé. Klimathemen, ökologische Dinge, so wird uns gesagt, seien ein ›Problem‹. Eine wichtige vielleicht, aber immer noch eine von vielen.« Aber dem ist nicht so. »Wir haben keine Existenz außerhalb der Erde. Nicht ein einziges Ding, das wir tun oder nicht verkörpern, sei es physisch, ist mit Strängen von Kausalität, Beziehung und gegenseitiger Abhängigkeit mit jedem Lebewesen und jedem chemischen und geologischen Prozess auf dem Planeten verbunden.« Doch »wir« - hier ließen sich lange Debatten über das Wer und Was anschließen - »haben ein Feuer gelegt, das wir nicht mehr kontrollieren können« und das Veränderungen hervorbringt, die »um ein Vielfaches größer sein werden, als die Schätzungen der Klimaauswirkungen und ökologischen Verluste allein vermuten lassen«. Worauf Steffen hinauswill ist, dass »wir« nicht erkennen können, »dass die stärkste Auswirkung der überall um uns herum ausbrechenden Planetenkrise darin besteht, dass wir selbst verändert werden, völlig verändert«; es gehe darum, die Diskontinuität anzuerkennen: dann wird man auch anders an die Frage herangehen, was ein »planetarer Realismus« ist, der Begriff des Realistischen ist dann nicht mehr der TINA-mäßige aus der Vergangenheit. 

#5 Pfaller kommt auch auf »die Mittel des Kampfes« zu sprechen: »Es kann dabei durchaus richtig sein, Straßen zu blockieren«, worauf das Aber folgt: »Wenn man allerdings in der Frage des Klimawandels ein Umdenken in der Mehrheit der Gesellschaft herbeiführen will, scheint es mir wenig zielführend, Lohnabhängige auf dem Weg zur Arbeit zu behindern. Einen anderen Gedanken dazu formuliert Simon Sahner: In einigen Aktionen etwa der Letzten Generation erkennt er ein »utopisches Erinnern«: Die Klimakrise stelle uns »vor eine Herausforderung unbekannter Art, der wir nicht mit den geläufigen erinnerungspolitischen Ritualen begegnen können, allein schon, weil sie in vollem Gange ist und ihre volle Kraft noch nicht einmal erreicht hat. Es handelt sich nicht um ein Ereignis, sondern um einen Prozess, der potenziell Jahrhunderte dauert und der je nach Verlauf in menschheitsgeschichtlich sehr kurzer Zeit jede kollektive Erinnerung unmöglich machen könnte. Wir sehen uns mit einer Katastrophe konfrontiert, an die wir uns erinnern müssen, während sie geschieht, um das Schlimmste zu verhindern.« Dies sei zum Beispiel bei der Färbung des Brandenburger Tors geschehen: durch Markierung und also Umdeutung wurde aus »dem Bauwerk sein eigenes Gegendenkmal. Als solches verweist es darauf, dass die fortschreitende Klimakatastrophe durch die Folgen für die Umwelt auch politische und soziale Konsequenzen haben würde: Menschen müssen fliehen, soziale Spannungen steigen und die Kämpfe um knappe Ressourcen nehmen zu.«

Letzte Meldung: In einem Text, in dem sich ein Foto mit der großartigen Bildzeile »Ein Joint enthält Marihuana« findet, erklärt uns die »Süddeutsche«, warum Cannabis »ein Klimakiller ist«. Es geht um die Energiebilanzen von Homegrowern aber auch von legalisierten Anbaufirmen; die Erfahrungen aus den USA seien da ziemlich ernüchternd. Die Indoor-Produktion eines Kilogramms Marihuana würde bis zu 5,2 Tonnen Kohlendioxid emittieren, so viel wie für einen Hin- und Rückflug in die Karibik. 

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