Klimanotizen 30

Sechs planetare Grenzen gelten derzeit als überschritten. Wird da eine »klimazentrierte Sichtweise« betrieben und das Risiko übertrieben? Eine Antwort darauf hat Hans Magnus Enzensberger schon 1973 gegeben. Und: Die Diskussion über Risiken müsste ihren stofflichen blinden Punkt überwinden.

#1 Wo stehen wir? Einem Update des Konzepts der planetaren Grenzen zufolge »weit außerhalb des sicheren Betriebsbereichs für die Menschheit«. Das ist leider keine Neuigkeit, aber die Aussagekraft des wissenschaftlichen Modells dazu ist dank Aktualisierung noch etwas klarer. Sechs der planetaren Grenzen gelten den Forscherinnen als überschritten. »Die Versauerung der Ozeane steht kurz vor der Überschreitung, während die Aerosolbelastung regional die Grenze überschreitet. Die Ozonwerte in der Stratosphäre haben sich leicht erholt. Der Grad der Überschreitung hat sich bei allen zuvor als überschritten identifizierten Grenzen erhöht.« Hier gibt es eine Zusammenfassung beim Potsdam-Instituts für Klimafolgenforschung, hier findet man die Studie in »Science Advances«. Johan Rockström, Mit-Autor der Studie und Direktor des PIK wird mit den Worten zitiert: »Wir wissen nicht, wie lange wir entscheidende Grenzen derart überschreiten können, bevor die Auswirkungen zu unumkehrbaren Veränderungen und Schäden führen.«

#2 In der »Welt« wird dagegen ein Kommentar von Brian O’Neill vom Pacific Northwest National Laboratory in den USA zum Thema gemacht: »Die Klimaforschung sollte nicht nur Klimarisiken, sondern ein Gesamtbild der Zukunft präsentierenO’Neill hatte dies in »Nature Climate Change« so formuliert: »Forschungen und Bewertungen zum Klimawandel, einschließlich des jüngsten IPCC-Berichts, zeichnen ein zunehmend düsteres Bild von der Zukunft. Die Annahme, dass die Zukunft schlimmer sein wird als die Gegenwart, könnte jedoch für viele Aspekte des menschlichen Wohlergehens falsch sein.« Das Argument: Wesentliche Aspekte des menschlichen Wohlbefindens würden sich auch in Zukunft verbessern, das zeige der Blick in die Vergangenheit: »Trotz globaler Erwärmung erlebte die Menschheit in den vergangenen 100 Jahren ihre mit Abstand beste Zeit: die Lebenserwartung hat sich verdoppelt, Armut und Hunger sind dramatisch weniger geworden; Bildung, Gleichberechtigung, Wohlstand oder Resilienz gegen Wetterkatastrophen beispielsweise haben sich rapide verbessert.« O’Neill sieht eine »Diskrepanz zwischen der klimazentrierten Sichtweise eines Abrutschens drohenden Kollaps und dem größeren Bild einer verlangsamten Verbesserung«, dies führe dazu, dass »grundlegende Missverständnisse in Bezug auf den Klimawandel« die öffentliche und politische Diskussionen prägten. »Allzu pessimistische Aussichten können Klimamaßnahmen abstumpfen, indem sie indem sie sie als hoffnungslos erscheinen lassen; politische Prioritäten können verzerrt werden, indem Bedingungen, die sich wirklich verschlechtern werden, nicht von denen unterscheiden von denen unterscheiden, die sich möglicherweise nur weniger schnell verbessern; und wir können die wissenschaftliche Glaubwürdigkeit untergraben, wenn die Ergebnisse in der nahen Zukunft nicht den vorherrschenden Erwartungen entsprechen.«

#3 Sticht ein solcher Hinweis den Alarmwert aus, der in dem Konzept der planetaren Grenzen steckt? Dazu stellt David Spratt im »Bulletin of the Atomic Scientists« eine Frage: »Würden Sie in einem Gebäude wohnen, eine Brücke überqueren oder einer Staumauer vertrauen, wenn die Wahrscheinlichkeit eines Einsturzes bei 10 Prozent läge? Oder 5 Prozent? Oder 1 Prozent? Nein, natürlich nicht!« Und weiter: »Wenn die Grundlagen moderner menschlicher Gesellschaften und das komplexe und fragile, globalisierte Netzwerk, in dem sie zusammenleben, bedroht sind, ist der normale Ansatz des Risikomanagements angesichts der derzeitigen Modellmängel, der weitgehend nicht quantifizierbaren Natur der Klimaschäden und der großen Unsicherheiten nicht angemessen.« Mit anderen Worten: »Politische Entscheidungsträger und führende Politiker scheinen nicht zu erkennen, dass bei existenziellen Risiken ein schlechter Ausgang bedeutet, dass sich die Zukunft bis zur Unkenntlichkeit von der vorherigen unterscheidet. Indem sie die hochriskanten Möglichkeiten herunterspielen, führen der IPCC und andere törichterweise ein gefährliches, noch nie dagewesenes Experiment durch.« Wir haben dieses Herangehen an die Risiko-Potenzialität der biophysikalischen Existenzkrise an anderer Stelle bereits mit einem Zitat von Hans Magnus Enzensberger aus dem Jahr 1973 illustriert: Man müsse mit der zentralen »ökologische Hypothese«, derzufolge »der heutige Industrialisierungsprozess, wenn er sich quasi naturwüchsig fortsetzt, in absehbarer Zeit zu katastrophalen Konsequenzen führen wird«, nach Art der Pascalschen Wette umgehen: »so lange die Hypothese nicht eindeutig widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht, ihre Aussagen zugrundezulegen. Nur wenn man sich so verhält, ›als ob‹ die ökologische Hypothese zuträfe, kann man sie auf ihre gesellschaftliche Dimension hin überprüfen«. Das heißt auch: für den schlechtes möglichen Ausgang.

#4 Derweil verfahren vor allem Konzerne und Regierungen nach einem »Prinzip Hoffnung«, das als falsch verstanden noch viel zu freundlichen beschrieben wäre. Wie der »Guardian« meldet, entfallen auf die USA mehr als ein Drittel der bis Mitte des Jahrhunderts geplanten Ausweitung der weltweiten Öl- und Gasproduktion. Danach kommen Kanada und Russland gefolgt von Iran, China, Brasilien und Dubai. Die Berechnungen beziehen sich auf die Kohlendioxidmenge, die durch neue Erschließungen voraussichtlich ausgestoßen wird, und stammen von Oil Change International. Zur Erinnerung: Die Internationale Energieagentur warnte 2021, dass keine neuen Öl- und Gasexplorationen und -erschließungen stattfinden dürften, wenn die Welt die 1,5-Grad-Grenze einhalten wolle.

#5 Es geht hierbei im Grunde vor allem um jene planetare Grenze, die auch die größte Aufmerksamkeit erfährt - den emissionsgetriebenen Klimawandel. Die Pointe des Modells der planetaren Grenzen jedoch ist, »dass die Widerstandsfähigkeit des Planeten von weit mehr als nur vom Klimawandel abhängt«, etwa von einer funktionierenden Biosphäre. Es gibt Wechselbeziehungen zwischen den Schädigungsdynamiken, aber worauf Johan Rockström und Kolleginnen hinweisen geht darüber hinaus: Für die Rückkehr in den sicheren Handlungsraum für die Menschheit auf der Erde ist mehr nötig als Dekarbonisierung. Hierin liegt ein Art stofflicher blinder Punkt in manchen, eher wohl: vielen politischen Diskussionen. Im Magazin »jacobin« hat Nicole Kleinheisterkamp-González dieser Tage eine ihrer Meinung nach »auch in weiten Teilen der deutschen Klimabewegung und Linken« verbreitete Ansicht kritisiert, »dass die Klimakrise nur dadurch bewältigt werden kann, dass sich die Lebensbedingungen von Lohnabhängigen im Globalen Norden verschlechtern. Folglich ergäbe es keinen Sinn, sie als Bündnispartner für dieses Projekt zu gewinnen«. Hat das wirklich irgendwer behauptet? Aber ein solcher Pappkamerad, wie er hier richtigerweise kritisiert wird, ist auch gar nicht das größte Problem. Der Beitrag von Kleinheisterkamp-González nimmt sich die Degrowth-Position vor, über die man auch viel diskutieren könnte. Nicht aber diskutieren lässt sich über die Physik und also um stoffliche Grenzen, die zu respektieren es nicht ausreichen wird, »Superreiche« vom Überkonsum abzuhalten und »Industrien möglichst schnell« zu dekarbonisieren. Man könne einfach nicht übersehen, so der Ökosozialist Chris Zeller, »dass global der Energie- und Materialverbrauch zu reduzieren ist«. Das wird ohne ein »Weniger« in bestimmten Bereichen, andere Maßstäbe von Wohlstand, alternative Organisationen von Produktion und eine Debatte darüber nicht zu erreichen sein, welcher Konsum einem »menschlichen Maß« entspricht, das in die planetaren Grenzen »hineinpasst«. Ob man das dann »Postwachstum«, »Degrowth« oder anders nennt - Rainer Land hat hierfür seit langem eine Diskussion über Inhalt und Richtung von »Entwicklung« vorgeschlagen -, wäre eher eine Nebensache.

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