Klimanotizen 27

Richard Tol kämpft mit der Arroganz der Räuberbande gegen Pappkameraden. James Hansen schaut bang auf das Energieungleichgewicht der Erde. Private Solaranlagen werden vereinfacht, aber das bringt den Grünen zumindest wahlpolitisch nichts. Und Kohei Saito denkt über »Degrowth-Kommunismus« nach.

#1 Wo stehen wir? Jedenfalls nicht vor dem Ende der Welt, schreibt Richard Tol, um dann eine ganze Armee von Pappkameraden umzustoßen - es würden nicht alle Menschen braten, ertrinken, verhungern usw. Hat das jemand behauptet? Tol ist Umweltökonom und 2014 aus dem IPCC zurückgetreten, weil ihm die Berichte zu alarmistisch waren. »Wenn wir akzeptieren könnten, dass die Aussichten für den Klimawandel nicht so düster sind«, schreibt er nun, »könnte die Reduzierung der Treibhausgasemissionen in akzeptablerem Tempo voranschreiten – und so das Risiko einer Gegenreaktion der Bevölkerung gegen die Klimapolitik verringern.« Die Logik dahinter ist nicht nur geeignet, die Liste der »Kategorien von Scheinargumenten, die echte Klimapolitik weiter verzögern sollen«, zu erweitern; in Tols Logik kommt auch die Arroganz der Räuberbande zum Ausdruck, als die man die Gesellschaften des globalen Norden bezeichnen sollte: »Hitze ist gefährlich für die Armen, eine Unannehmlichkeit für die Reichen… Der Klimawandel wird insbesondere in Entwicklungsländern und der Artenvielfalt ernsthaften Schaden zufügen.« Na dann.

#2 Noch einmal Tol: »Das Hauptproblem bei einem übertriebenen Klima-Untergangsgefühl besteht jedoch darin, dass die Ziele für die Reduzierung der Treibhausgasemissionen zu streng sind.« Hä? Hat das Untergangsgefühl die Ziele zu streng werden lassen? Oder sind die strengen Ziele das Hauptproblem des Gefühls? Wie dem auch sei, nach Ansicht der allermeisten Expertinnen und Experten ist der gegenwärtige Umsetzungsstand der gesetzten Klimaziele nicht ausreichend, diese müssten also strenger sein, um das zu verhindern, was der Umweltökonom Tol für nicht so düster hält, weil andere davon betroffen sind. Und außerdem gebe es eine ja »eine lange Geschichte gescheiterter Prophezeiungen«. Also nochmal: Wo stehen wir? James Hansen, »der unbequeme Prophet der Erderhitzung« (Spiegel), hat zusammen mit Makiko Sato und Reto Ruedy gerade die wichtigsten aktuellen Daten zusammengefasst, »um die Situation zu verstehen«. Es würden erste Anzeichen daraufhin deuten, dass die Erwärmung die Erwartungen übertrifft; da sich »drei zusätzliche Mechanismen« auswirken, »so dass die globale 12-Monats-Mitteltemperatur wahrscheinlich noch vor dem nächsten Jahr die Erwärmungsgrenze von 1,5 Grad Celsius überschreiten wird«. Das Trio fasst die Wirkung von El Nino, Aerosolen, Helligkeit der Sonne und Rückkopplungen zusammen und bringt sie mit den globalen Temperaturdaten zusammen. Als entscheidend wird »das derzeitige außerordentlich große Energieungleichgewicht auf der Erde« (EEI) bezeichnet, also die Differenz zwischen der Solarstrahlung die eindringt und der langwelligen Solarstrahlung, die austritt (Wärmestrahlung). Hansen hatte 2012 das EEI auf etwa 0,6 W/m2 berechnet; aktuelle Daten deuten auf ein ungefähr doppelt so großes Ungleichgewicht hin. Es bleibt einfach unglaublich viel überschüssigen Energie auf der Erde, vor allem in den Ozeanen: »Wir stehen am Beginn einer neuen Klimagrenze.« Hansen, Sato und Ruedy halten das Problem weiter für lösbar, dazu müssten nicht nur die notwendigen klimapolitischen Maßnahmen ergriffen, sondern auch die für die Beobachtung zwingenden Forschungsmöglichkeiten gesichert werden, damit auch die Prognosen besser werden. Laut dem Trio gibt es für die Fortsetzung der Messungen des Strahlungshaushalts der Erde aus dem Weltraum im Rahmen des Earth Observing System der NASA noch keine Pläne, und das Argo-Programm, bei dem 4.000 autonome, tief tauchende Schwimmer Messungen in den Ozeanen vornehmen, müsse »weiter ausgebaut werden«.

#3 Die Ampel hat ein so genanntes Solarpaket beschlossen, im Grunde geht es um Vereinfachung von Regelungen für die Inbetriebnahme von PV-Anlagen, nicht zuletzt im privaten Bereich. Der Gesetzentwurf findet weithin Zustimmung, wird »für die regelungswütige Bundesrepublik« als »ganz heilsame Erfahrung« betrachtet und mit der Hoffnung verbunden, je leichter man eine eigene PV-Anlage anschließen kann, desto eher werde sich auch ein Gefühl von Selbstwirksamkeit einstellen. Eine Frage könnte in diesem Zusammenhang ganz interessant sein: Wirkt sich ermöglichende Klimapolitik hinten raus auch auf politische Einstellungen aus, also wächst zum Beispiel die Zustimmung zu ökologisch ausgerichteten Parteien, wenn Menschen sich Panele aufs Dach oder vor den Balkon packen? Eine Studie von Resul Umit kommt auf Grundlage von drei Längsschnittstudien aus Deutschland, dem Vereinigten Königreich und der Schweiz zu dem Ergebnis, dass eine  Installation zu keinen bedeutenden Veränderungen in den politischen Einstellungen der jeweiligen Haushalte führt. Dies sei einerseits »eine gute Nachricht, da Solaranlagen ohne Rückkopplung weniger wahrscheinlich den Widerstand der politischen Eliten auf der Verliererseite der Debatte auf sich ziehen werden. Wenn die Bewohner von Solarhaushalten anfangen, sich mit einer bestimmten Partei zu identifizieren - zum Beispiel mit den grünen Parteien - würde dies Anreize für andere Parteien schaffen, sich den Programmen für erneuerbare Energien für die heimische Solarenergieerzeugung zu widersetzen.« Andererseits sieht Umit hier auch eine »verpasste Chance«; würden eigene Solaranlagen das politische Interesse der Haushalte  und die Bereitschaft, sich für ökologische Politik zu engagieren steigern, »könnte dies Anreize für die politischen Entscheidungsträger schaffen, weitere Mittel in die Solarenergie zu investieren.« Eine Studie von Matto Mildenberger und anderen kommt zu dem Ergebnis, dass Haushalte mit Solaranlagen »ideologisch vielfältiger und politisch aktiver als ihre Nachbarn« sind. Für die Analyse wurden Satellitenbilder und Wählerdaten aus den USA genutzt, die zeigen, »dass immer noch viele Solarhaushalte Republikaner sind«, sich also »Personen aus dem gesamten ideologischen Spektrum an der Energiewende in den USA beteiligen, trotz der extremen ideologischen Polarisierung in Bezug auf den Klimawandel.« Auf einen ganz anderen Effekt sind Frieder Mitsch und Andrew McNeil gestoßen, die untersucht haben, wie der Bau von Windkraftanlagen und Solarparks die politischen Präferenzen von Menschen in Baden-Württemberg verändert hat, in deren Nähe solche Anlagen errichtet werden oder entsprechende Pläne existieren: Dort ist der Stimmenanteil für die Grünen gesunken.

#4 Wenn sich Hunderttausende hierzulande PV-Anlagen zulegen, dann »wächst« jede Menge, nicht nur das Potenziale der Erneuerbaren, sondern zum Beispiel auch der Verbrauch von Rohstoffen, die in einer endlichen Welt an anderer Stelle dann nicht mehr zur Verfügung stehen. Und schon sind wir wieder bei den Widersprüchen der Klimapolitik: Auch eine grundlegende ökologische Transformation vergrößert, soll dabei am Ende mindestens der gegebene Stand an Konsum, Produktion etc. herauskommen, den stofflichen Umsatz. Die Frage danach, wie das global gestaltet werden könnte und welches Maß an Wohlstand man dabei für biophysikalisch akzeptabel halten darf, ist da noch nicht einmal gestellt. Einige Einsichten liefert die aktuelle Ausgabe der »maldekstra«, die eine Widerspruchsdimension so zusammenfasst: »Die einen gehen ›einkaufen‹, um ihre Industrien und ihren Wachstumskurs energetisch abzusichern, die anderen werden als Lieferanten missbraucht. Hier Energiewende, dort Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen.« Über die Schlussfolgerung - »Jede wirkliche Energiewende bräuchte eine andere Organisierung von Produktion und Arbeit« - lässt sich lange debattieren, allerdings besteht leider nicht mehr lange Zeit, die Umsetzungsfragen zu beantworten. Der japanische Ökomarxist Kohei Saito hat dazu, meint dieser Leser hier, in seinem gerade bei dtv erscheinenden Buch »Systemsturz« keine befriedigenden Vorschläge gemacht (»niedliche Agitprop-Folklore zum Wohlfühlen für gekränkte Millennials«). Im Gespräch mit Guido Speckmann fasst Saito seinen zentralen Punkt noch einmal zusammen: »Die Klimakrise ist so gewaltig, dass wir ganz andere Lösungen brauchen als die, die selbst in der Linken für selbstverständlich gehalten werden. Auch dort glaubt man immer noch an das Märchen vom ewigen Wachstum.« Stattdessen will Saito über einen »Degrowth-Kommunismus« diskutieren. Es gehe »nicht darum, mehr Materialien zu verbrauchen, mehr Produkte zu konsumieren, nicht um mehr Geld«. Wenn aber sich Hunderttausende neue Solaranlagen zulegen… Auch in der Degrowth-Variante bleibt es »das Einfache, das schwer zu machen ist«.

#5 Ein vor wenigen Tagen publik gewordenes Gutachten im Auftrag des Bundesarbeitsministeriums über die großen Risiken des Klimawandels für Arbeitsmarkt und Sozialstaat ist weitgehend unter dem öffentlichen Radar geblieben. Genau das hatte eine der Verfasserinnen, Maike Voss vom Centre for Planetary Health Policy, kritisiert: dass nämlich diese Risiken derzeit nicht ausreichend kommuniziert werden. Das Gutachten findet sich hier, ein Gespräch mit Voss hier und Karin Christmann hat alles knapp zusammengefasst. Man erfährt etwa, wie Beschäftigte im Gesundheitssektor und in der Notfall- und Rettungsversorgung aufgrund von zunehmenden Hitzeereignissen und Extremwetter immer stärker betroffen sein werden, was aufgrund zunehmender Fallzahlen bei zugleich ökonomisch unter Druck geratener Ressourcen die Versorgungssicherheit der Bevölkerung infrage stellen kann. Oder wie Richard Tol vermutlich sagen würde: »Hitze ist gefährlich für die Armen, eine Unannehmlichkeit für die Reichen.«

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