Klimanotizen 26

Der wärmste Monat seit über 100.000 Jahren liegt hinter uns. David Wengrow hofft auf die Möglichkeit radikaler Veränderung. Peter Sloterdijk hält Kühe und China für die Feinde der Menschheit. 20 bis 50 Anfragen bei ChatGP verbrauchen nicht nur einen halben Liter Wasser. Und Politiker gehen wandern.

#1 Wo stehen wir? Bei 422,14 ppm Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre, so wird der monatliche Durchschnitt der Messungen am Mauna Loa angegeben. Vor zehn Jahren im Juli waren es rund 398 ppm. 1990 wurden im Jahresdurchschnitt 353,72 ppm gemessen. Und für das Jahr 1850, das den Beginn der Referenzperiode bis 1900 markiert, gegenüber der der globale Temperaturanstieg auf 1,5 Grad begrenzt werden soll, werden 284,7 ppm angegeben. In den 100 Jahren zwischen 1750 und 1850 ist der Kohlendioxidanteil in der Atmosphäre 6,7 ppm gestiegen - von 1915 bis 2015 waren es fast 100 ppm auf 399,58 ppm im Jahresdurchschnitt. Und weil sowas von sowas kommt, war der Juli 2023 der heißeste Monat seit Beginn der Aufzeichnungen, die globalen Meerestemperaturen zeigen große Abweichungen, das antarktische Meereis wächst so langsam wie nie zuvor. »Stellt diese Häufung von Extremereignissen angesichts des voranschreitenden Klimawandels die neue Normalität dar?«, hat das Science Media Center sechs Expertinnen und Experten befragt. Die sehen die aktuellen Wetterextreme überwiegend im Rahmen dessen, was Klimamodelle vorhergesagt haben. Aber das ist vor allem eine Aussage über die Treffgenauigkeit der Prognosen. Fakt bleibt: »dass wir den wärmsten Monat im globalen Durchschnitt seit vielen Jahrtausenden überhaupt erlebt haben«, möglicherweise seit 115.000 Jahren.

#2 Derweil gehen Politiker wandern. Politikerinnen tun das auffallend seltener, wahrscheinlich schon deshalb, weil ihr Anteil weit langsamer zunimmt als jener des Kohlendioxids in der Atmosphäre. Es sind also eher die Hendriks, Boris’, Markus’, Cems, Huberts und Kevins, die sich politisch wirksame Bilder erwandern wollen; die Medien spielen das gern mit. Die »Frankfurter Allgemeine« hat einige der berühmtesten Politikerwanderungen in Erinnerung gerufen; es geht um Männer, die dem Wetter trotzen und über politische Kontroversen hinwegfinden. Die politische Wanderkultur hat auch, nun ja: kritische Fragen ausgelöst, etwa diese: »Warum gehen Politiker nicht surfen oder voltigieren?« Machen sie das nicht, fragt es in einem zurück, an Strandfotos von Mao und Breschnew oder den reitenden Putin denkend. So oder so: beim Politikerwandern geht es um den Politiker, um seine Inszenierung, um deren mediale Vervielfältigung und um die Kritik daran. Und das Grüne drumherum? Dem Politikerwandern ist Natur bloße Kulisse, und eine in ihrer Kulissenartigkeit schon vergangene, eine romatische Vorstellung von Natur also. Nie würde Friedrich Merz durch Borkenkäferkahlfraß stelzen, noch Markus Söder einen klimawandelgeschädigten Baum umarmen. »Wenn ich beim Wandern bin«, hat ein Sozialdemokrat einmal zu Protokoll gegeben, »ist eigentlich alles super.« Eigentlich.

#3 »Wenn wir als Spezies einfach weitermachen, steuern wir auf Gefahr zu. Es bedarf einer radikalen Umstrukturierung unserer Wirtschaft und Gesellschaft«, sagt der Archäologe David Wengrow im Gespräch mit der »Süddeutschen« und erklärt, was man ausführlich in seinem gemeinsam mit David Graeber publizierten »The Dawn of Everything« nachlesen kann. Und Wengrow kommt auf einen springenden Punkt zu sprechen: »Festzustecken heißt, das zu wissen, aber sich nicht bewegen zu können.« Er gehe »von drei grundlegenden Formen menschlicher Freiheit aus: wegzuziehen, nicht zu gehorchen und eine neue soziale Ordnung zu schaffen. Wir glauben, dass dies während des größten Teils der Menschheitsgeschichte sehr verbreitet war. Aber heute ist es uns so fremd, dass wir uns eine Gesellschaft mit solchen Prinzipien kaum vorstellen können.« Wengrow und Graeber schreiben da gegen etwas an, dass Fredric R. Jameson (oder war es Mark Fisher?) in den berühmten Satz gegossen hat: »Es ist einfacher, sich das Ende der Welt vorzustellen, als das Ende des Kapitalismus.« Wenn man den Gedanken noch ein bisschen von seiner Plakatgeeignetheit herunterholt, könnte man ihn so wie hier formulieren: »Es bleibt das große Rätsel, wie Menschen glauben können, Gesellschaften könnten sich nicht an etwas weniger Fleisch, andere Energieerzeugung, vielleicht eine Weile weniger Flüge oder Städte mit mehr Fahrradwegen anpassen, aber problemlos an eine 3 Grad heißere Erde

#4 Die Taz hat mit Peter Sloterdijk gesprochen, der sein neues Buch zu promoten hat: »Die Reue des Prome­theus«. Einen Gedanken hat er sich bei Bruno Latour ausgeborgt, den der kritischen Zone: »Mit der kritischen Zone ist die lebenspendende atmosphärische Hülle des Planeten gemeint, einschließlich der Biosphäre, des belebten Erdbodens bis an die Grenze der Lithosphäre. Also eine Art von vitalem Film, der sich wie eine Hülle um die Erde legt, von einer Dicke von kaum zehn Kilometern, Erdkrume und Lufthülle zusammengenommen. Innerhalb dieses Films wird schädliches Handeln an einer Stelle auch anderswo spürbar, so wie der ganze Mensch zusammenzuckt, wenn ihm ein Felsen auf den Fuß fällt.« Dass sich dieses schädliche Handeln nicht erst seit gestern so ungleich verteilt wie das Zusammenzucken, ist Sloterdijks Thema nicht, er sagt stattdessen Sätze wie: »Die Kühe sind in diesem Zusammenhang als die wahren Feinde der Menschheit zu identifizieren. Sie stehen quasi gleichwertig neben der chinesischen Diktatur.« Der Philosoph will damit auf etwas hinaus, das Politiker auch gern aufbringen, um zu verhindern, dass hierzulande »etwas weniger Fleisch, andere Energieerzeugung, vielleicht eine Weile weniger Flüge oder Städte mit mehr Fahrradwegen« in Mode kommen: die Bundesrepublik trage ja nur wenig zur »Globalbelastung der Atmosphäre« bei. Was soll man also schon ausrichten? Zum Beispiel aussagefähigere Zahlen hernehmen. Unter Berücksichtigung der Einwohnerzahl rangieren Deutschland (8,1 Tonnen pro Kopf) und China (8,7 Tonnen pro Kopf) in einer Liga. Die Herausforderung, von diesen Werten runterzukommen, ist also gar nicht so verschieden.

#5 Hätte ihm die so genannte Künstliche Intelligenz helfen können? Vielleicht, nicht aber beim Prometheus-Problem der »globalen Brandstiftung«; denn dazu tragen die »stochastischen Papageien« erheblich bei. »Meine Forschung zeigt, dass die neuen Generationen von Sprachmodellen tausende Mal mehr Kohlendioxid verursachen als vorige Generationen«, zitiert »table« die Forscherin Sasha Luccioni. Laut der University of California verbrauchen 20 bis 50 Anfragen bei ChatGP rund einen halben Liter Wasser. Und die australische Autorin Kate Crawford pocht darauf, KI als »extraktive Industrie« zu bezeichnen. Schon jetzt (2020) verursacht der weltweite Informations- und Telekommunikationssektor rund 700 Millionen Tonnen Kohlendioxid. Das waren 1,4 Prozent aller Emissionen. Ungefähr so viel, wie Sloterdijk für den deutschen Emissionsanteil veranschlagt, den er einen »Flohzirkus« nennt. Man kann sich die Zahlen schön zurechtlegen, das Ergebnis ist dasselbe: Es juckt alle.

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