Klimanotizen 22

Rekorde, Rekorde, Rekorde - und trotzdem wird weiter von einer »völlig übersteigerten Klima-Debatte« gesprochen. Über »ideologiegetriebene Kräfte«, die natürlich immer nur die anderen sind, die neue Angst vor Klimashaming und schwache Selbstaufrufe, etwas stark zu machen.

#1 Die unabhängige gemeinnützige Berkeley Earth, die sich auf Umweltdatenanalyse konzentriert, hat ihre Zusammenfassung der globalen Temperaturbedingungen für den Juni 2023 veröffentlicht: der wärmste Juni seit Beginn der Aufzeichnungen 1850, den bisherigen Rekord mit großem Abstand gebrochen, die Temperatur in den Ozeanen ebenfalls ein neues Hoch seit 1850, an Land nominell der zweitwärmste Juni seit 1850, neuer Wärmerekord im Nordatlantik mit großem Abstand usw. usw. Mit 81 Prozent Wahrscheinlichkeit wird 2023 ein neues Rekordjahr werden - damit nimmt auch die Wahrscheinlichkeit von katastrophalen Ereignissen infolge der biophysikalischen Existenzkrise zu; und wir reden hier zunächst »nur« über die Erderhitzung infolge des Ausstoßes von Treibhausgasen. Und wir ahnen: Das geht im Juli so weiter.

#2 Ist es vor diesem Hintergrund wirklich »höchst manipulativ«, wenn etwa der UN-Generalsekretär Guterres den Planeten auf dem »Highway in die Klimahölle« sieht? Ja, findet der Angst- und Depressionsforscher Florian Holsboer. »Wenn Angstszenarien in den Medien hemmungslos verstärkt werden«, könne »sich eine eigentlich irrationale Angst zu einer kollektiven Angst hochschaukeln. Wir erleben das gerade – in einer völlig übersteigerten Klima-Debatte, in der viele Menschen eine irrationale Angst vor der nahenden Apokalypse entwickelt haben. Hier kann der Übergang zur Angst als Krankheit entstehen.« Völlig übersteigert? Holsboer, der lange Zeit Direktor des Max-Planck-Instituts für Psychiatrie in München war, muss einen Pappkameraden auf die Bühne stellen, um sein Argument zu halten: »Es wird ein Szenario geschaffen, welches impliziert, dass der Planet untergehen wird, wenn nicht sofort gehandelt wird.« Das behauptet nicht einmal die »Letzte Generation«, die dieses »letzte« ausdrücklich auf »vor den Kipppunkten« bezieht, also darauf, dass wir über die möglichen, durch die Überschreitung planetarer Grenzen ausgelösten Dynamiken zu wenig wissen, die Annahme aber berechtigt ist, dass, »wenn es kippt«, auch für die Gesellschaft verheerende Entwicklungen wahrscheinlich sind. Über die Grenzen ihrer Modelle geben die Klimaforscherinnen selbst Auskunft. Und wir zitieren es hier gern noch einmal: Schon 1973 hat Hans Magnus Enzensberger vorgeschlagen, mit der zentralen »ökologische Hypothese«, derzufolge »der heutige Industrialisierungsprozess, wenn er sich quasi naturwüchsig fortsetzt, in absehbarer Zeit zu katastrophalen Konsequenzen führen wird«, nach Art der Pascalschen Wette umzugehen: »so lange die Hypothese nicht eindeutig widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht, ihre Aussagen zugrundezulegen. Nur wenn man sich so verhält, ›als ob‹ die ökologische Hypothese zuträfe, kann man sie auf ihre gesellschaftliche Dimension hin überprüfen«. Eine alberne Übertreibung wie jene Holsboers, irgendjemand behaupte, »dass der Planet untergehen wird«, steht außerhalb jeder Prüfung, sie verrät aber einen Standpunkt, den der Psychiater dort noch unterstreicht, wo er »stark ideologiegetriebene Kräfte in der Politik« am Werke sieht, »die diese Angst nutzen« wollten. Man könnte das die wahre Angstmache nennen: vor der aus wissenschaftlicher Perspektive unabweisbaren Notwendigkeit durchgreifender Klimapolitik. Holsboer spricht ohne es zu bemerken über sich, über die eigentlichen »Angstszenarien«, die »in den Medien hemmungslos verstärkt werden« und sich »zu einer kollektiven Angst hochschaukeln« können - nämlich vor dem staatlich weithin geförderten Austausch fossiler Heizungsanlagen, vor angeblicher Deindustrialisierung, vor Wohlstandsverlust und vor dem Abschied von der heilen Welt, die nie eine war.

#3 Die Klimaethikerin Kirsten Meyer nimmt sich das Problem von der anderen Seite aus vor und differenziert erst einmal das Feld möglicher Überforderungen. Die eine ist emotionaler Art und zeigt sich darin, dass »man den Klimawandel für so desaströs hält, dass man ihn am liebsten verdrängen will«. Die andere hat mehr mit der Erfahrung zu tun, »dass ich meinen Lebensstil einschränken muss, um etwas gegen den Klimawandel zu tun«. Generell, so Meyer, solle man vorsichtig sein mit dem Einwand der Überforderung - und sie lenkt den Blick auf eine zentrale Frage: Was ist moralisch geboten? Dass sich eine von einigen Linken bis weit nach rechts reichende übergroße Koalition darauf verlegt hat, gegen Moral im öffentlichen Diskurs zu wettern, macht die Frage nicht zu einer falschen: »Was ist richtig? Was ist falsch?«

#4 Vera Schroeder geht dieser Spur anhand anekdotischer Evidenz nach: »Höflichkeitsabsurdität« beobachtet sie da, wo Menschen, die für sich entschieden haben, auf diese oder jene klimaschädliche Verhaltensweise zu verzichten, »in ein Small-Talk-Gespräch über Urlaubspläne« von immer noch fliegenden Menschen verwickelt werden, und »auf Zehenspitzen« versuchen, »dem Gegenüber mit seinem Klimascheiß bloß nicht auf die mallorcasandsehnsüchtigen Füße zu treten«. Nur »keine ›Moralkeule‹«, »Klimashaming ist blöd«. Was man hier erkennen könnte: das Ergebnis »der öffentlichen Konzentration auf die vermeintlich Unwilligen«, das jene zur Selbstverleugnung pressiert, »die eigentlich endlich loslegen wollen mit engagiertem Klimaschutz«, sich aber »langsam schlichtweg vergessen fühlen«. Ähnlichkeiten mit der gesellschaftlichen Debatte um die Aufnahme von Menschen in Not sind wohl nicht ganz zufällig, auch dahingehend wird bisweilen beklagt, warum eigentlich nur jene als »besorgte Bürger« gelten, die von geschlossenen Grenzen träumen, und nicht jene, die von der Sorge um das Wohl anderer gern etwas tun würden. Ergebnis, so noch einmal Schroeder mit Blick auf das politische Geschäft: »Nicht die Klimarealität gibt das Ziel vor, sondern ein absurdes Schauspiel aus Schuldzuweisungen, Falschaussagen, Streitroutinen, dazu Instrumentalisierungen und Interpretationen von den vermeintlichen Gedanken und Wünschen ›der Leute‹.« Das so entstehende »Gefühl, unter faktischem Zeitdruck in einer ewigen Beharrungsschleife der Mächtigen festzuhängen und gleichzeitig von ihnen abzuhängen, führt bei allen, die die Klimakrise wahrnehmen, zu Frust und absurden Alltagsverrenkungen.« Und: »Wie zeitgemäß wäre eine Klimapolitik, die die gemeinsame Aufgabe priorisiert, Menschen für inhaltlich große, gute Zukunftsentscheidungen zu gewinnen, statt sich fast ausschließlich von spekulativen Wählerwünschen antreiben zu lassen?«

#5 Schroeder adressiert ihren Appell in Richtung Bundesregierung, die sie tragenden Parteien oder solche, die dies gern tun würden, könnten eine neue Studie des Umweltbundesamtes zur Kenntnis nehmen, laut der die Bundesrepublik ihre Klimaziele bis 2030 noch erreichen kann. Wirklich? Ja. Es sind darin auch die dazu nötigen Maßnahmen aufgeführt, »unter anderem mehr Schienenverkehr, eine Reform der KfZ-Steuer sowie die Beschränkung fossiler Heizungen. Zudem müssten alle Emissionen mit einem Preis belegt und verursachergerecht angelastet werden«, nebst sozialem Ausgleich. »Wir brauchen jetzt dringend einen konstruktiven Dialog darüber, wo sich Emissionen reduzieren lassen«, wird UBA-Chef Dirk Messner zitiert. Das ist so richtig, wie man von links schon die mahnenden Worte vernimmt, dass das alles nicht ausreichend sei, weil der Kapitalismus… Ein Parteipolitiker rügt die Ampel, diese agiere »im besten Fall« nach dem Motto: »Unser Kapitalismus soll grüner werden«, wogegen er, »die sozialistische Alternative stark machen« möchte. Oder hier, im eher bewegten Spektrum, wo man liest, es sei »höchste Zeit also, dass die Linke sich aus ihrer Schockstarre löst, beginnt, Wissen wieder zu politisieren und eigene Modelle und Ansätze zu entwickeln«. Da taucht dann plötzlich auch wieder der »Untergang des Planeten« auf, dem »die mühselige, alltägliche Kleinarbeit« entgegengestellt wird, aufzumalen, wie »der Umbau hin zu einer gerechteren Welt konkret aussehen kann«. Ja, wie? Und hier, das ist die große Hausaufgabe, müsste man so konkret werden, wie es die Ampel beim Gebäudeenergiegesetz wurde, das ihr dann von den Kräften des Gestern, die auch in ihr selbst wirken, auf die Füße gekippt wurde. Ansonsten bleiben Selbstaufrufe, etwas stark zu machen, vor allem: schwach.

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