Klimanotizen 21
Was der Konflikt ums Heizungsgesetz mit Räuberbanden zu tun hat? Wie kontinuierliche Desinformation zweiter Ordnung Demokratie untergräbt? Warum der Ampel-Streit ein Kampf dreier Integrations-Prioritäten ist? Und was uns das »Flackern« der Systeme über den Stand der planetaren Krise sagt?
#1 »Ohrfeige«, »Blamage«, »Vollklatsche« - man kann sich aussuchen, welcher Partei in der Opposition man diese Zitate zuordnet, es sprechen alle gleich über den in Karlsruhe erfolgreichen Eilantrag gegen das Gesetzgebungsverfahren zum Gebäudeenergiegesetz. Dass dieses kritikwürdig ablief, steht außer Frage; aber ohne den Blick aufs Ganze wird die Bewertung des Prozessualen zur reinen Formalie. Vielleicht so: Weite Teile der Opposition und der Medien haben zu Gunsten unter anderem der Interessen der Gaslobby, die ihren Kapitalstock bedroht sieht, seit Monaten gegen einen Gesetzentwurf Front gemacht, der nicht ganz ausgereift war und mäßig gut kommuniziert wurde. Die Grünen, die innerhalb der Ampel nicht nur in dieser Frage meist ziemlich alleine dastehen, haben nach wochenlangem Konflikt - Technologieoffenheit! Graichen-Plan! Die arme saarländische Oma mit der Ölheizung! - und in ernüchterter Einschätzung des politischen Möglichkeitsraums schließlich eine drastische Entkernung des ursprünglich Angestrebten akzeptiert, um wenigstens überhaupt einen Schritt Richtung Wärmewende zu schaffen, die den Vorgängerregierungen so am Herzen lag wie sonst die unteren Einkommensklassen, die nun sogar einem Friedrich Merz zum Argument gegen das Gebäudeenergiegesetz taugten. Weil es in der Sache letzten Endes um die Erreichung von Klimazielen geht, zu denen sich die Bundesregierung verpflichtet hat, was zwei der drei Koalitionspartnern offenbar egal ist, wurde eine rasche Entscheidung über das, was vom Gebäudeenergiegesetz übrig blieb, zu einem klimapolitischen Wert an sich, denn die biophysikalische Existenzkrise wird nicht zuletzt von Zeitfaktoren bestimmt, über die es sich nicht diskutieren lässt. (Mögliche andere Motive, etwa das, die Angelegenheit aus den Oktober-Wahlkämpfen herauszuhalten, mögen hinzugetreten sein.) Noch einmal: Ja, das parlamentarische Verfahren war kritikwürdig, aber im Kern ging es in der Kritik an »Habecks Heizhammer« nie um demokratische Rechte von Abgeordneten, nicht um mangelhafte Klimakommunikation, nicht um die soziale Dimension der Transformation bei der Gebäudewärme, diese wurden als Vehikel einer Auseinandersetzung genutzt, die in Wahrheit um Grundsätzlicheres sich dreht: Gehört man zur Partei »später ist heißer« oder zur Partei »Einsicht in Notwendigkeit«; steht man auf der planetaren Seite der Barrikade oder auf der eines Weiter so, das die planetaren Grenzen überwuchert - was erst einmal und mit tödlicher Konsequenz zu Lasten des globalen Südens geht. Der »Erfolg« der Entkernung und Verzögerung des Gebäudeenergiegesetz liegt darin, »Freiheiten« verteidigt zu haben, die »davon abhängig sind, anderen Unfreiheit zuzumuten«, wie es Stephan Lessenich in der letzten Ausgabe der Klimanotizen formuliert hat. Oder, um einen Gedanken von Ronen Steinke über die deutsche Migrationspolitik aufzugreifen, der vom Unterschied gesprochen hat »zwischen einer Räuberbande, die nur ihr eigenes, kurzfristiges Interesse zu maximieren versucht - und einem politischen Gemeinwesen, das den Anspruch an sich selbst hat, dass seine Regeln auch unabhängig von der persönlichen, momentanen Interessenlage fair sind«. Allzu viele wollen Teil der Räuberbande bleiben.
#2 »Die Ampel sollte jetzt in sich gehen und dieses Murks-Gesetz endlich einstampfen«, ruft es derweil nicht nur aus der CSU heraus. Es äußern sich da dieselben Leute, die schon behauptet haben, die jüngsten Erfolge der AfD hätten ihren Grund in dem Ampel-Streit um die Wärmewende, in den sie monatelang Öl hineingossen, auf dass das zerstörerische Feuer sich erhalte. Verwiesen wurde dabei gern auf eine Bevölkerung, die man nicht verunsichern dürfe. Wie die Leute in Sachen Klimapolitik ticken hat, erfährt man unter anderem aus dem Sozialen Nachhaltigkeitsbarometer, das im Rahmen des Kopernikus-Projekts Ariadne läuft und dessen jüngste Ausgabe dieser Tage veröffentlicht wurde. Die Pressemitteilung dazu stand unter der Überschrift: »Weitaus mehr Menschen als angenommen befürworten Klimaschutz.« Ein Großteil der Bürgerinnen und Bürger habe »selbst aktiv ihr Verhalten nach eigenen Angaben geändert. Auch die privaten Investitionen in klimafreundliche Technologien wachsen der Befragung zufolge«, aber: »Für eine deutliche Mehrheit der Menschen scheint allerdings das Einsparpotential im eigenen Haushalt ausgeschöpft«. Auch deshalb »sehen die Menschen eine stärkere Handlungsverantwortung bei der Industrie und in der Politik und stören sich am mangelnden Tempo bei der Umsetzung der Instrumente für mehr Klimaschutz.« Auch stößt die »soziale Ungleichheit in Chancen und Lastenverteilung der Strom- und Verkehrswende« auf Kritik. Wie schon aus anderen Untersuchungen bekannt, hat auch das Soziale Nachhaltigkeitsbarometer Hinweise auf das gefunden, was die Sozialpsychologie »Pluralistische Ignoranz« nennt: Menschen schätzen oft falsch ein, wie andere Menschen denken und handeln - so auch beim Klimaschutz, bei dem die Bereitschaft anderer überwiegend unterschätzt wird. Ortwin Renn vom Forschungsinstitut für Nachhaltigkeit unterstreicht die demokratiepolitische Pointe in diesem Zusammenhang: »Die Aufklärung über Mehrheits- und Minderheitsverhältnisse zu einzelnen Maßnahmen der Strom- und Verkehrswende ist also sehr wichtig für den politischen Diskurs und Entscheidungsprozess.« In der Politik wird oft das genaue Gegenteil getan, indem ständig die eigene Position mit der Behauptung unterstrichen wird, die Leute wollten diese oder jene Klimamaßnahme nicht. Christian Stöcker nennt das »kontinuierliche Desinformation zweiter Ordnung«, die Regierungspolitik scheine sich »oft eher nach der gefühlten als der realen Mehrheitsmeinung zu richten«.
#3 Die Konflikte zwischen den die Regierung tragenden Parteien über das Gebäudeenergiegesetz sind allenthalben als Teil des Ursachengeflechts genannt worden, die der rechtsradikalen AfD Zustrom verschafft. Gerade erst hat auch der Politikwissenschaftler Jürgen Falter von einer Koalition gesprochen, in der FDP und Grüne agieren, »die nicht kompatibel sind«, was ständig zu »koalitionsinternen Friktionen« führe, die ein schlechtes Bild abgeben. Der grüne Ministerpräsident Winfried Kretschmann sieht darin den »tieferen Grund« für das AfD-Hoch und rät, die Regierung solle den öffentlichen Streit »eindämmen«. Im neuen »Merkur« eröffnet der Bremer Soziologe Uwe Schimank eine ganz andere Perspektive auf den Regierungskrach, die auch zu ganz anderen Ratschlägen führen würde. »Ist dieser Streit womöglich gar nicht Ausdruck schlechten Regierens, sondern genau umgekehrt ein Anzeichen dafür, dass hier engagiert um die Lösung der zentralen gesellschaftspolitischen Gestaltungsprobleme gerungen wird?«, schreibt Schimank und empfiehlt, »geeignete sozialwissenschaftliche Perspektiven und Konzepte heranzuziehen«, namentlich die Überlegung, dass moderne Gesellschaften permanent mit drei Integrationsproblemen konfrontiert sind: Sozialintegration, Systemintegration, ökologische Integration. Dabei entstünden Trade-offs, da zum Beispiel »die ökologische Integration mit den beiden anderen Integrationsproblemen auf vielfache Weisen verknäuelt ist. Die Situation wird dadurch noch einmal deutlich komplizierter. Man kann schließlich nicht erwarten, dass das, was für Sozialintegration gut oder sogar unumgänglich ist, immer auch der Systemintegration und der ökologischen Integration nützt, und das gilt umgekehrt natürlich genauso.« Es gebe heute »eine überwältigende wissenschaftliche Evidenz für die ökologische Desintegration der heutigen Gesellschaft«; zugleich aber stehe »politische Gesellschaftsgestaltung trotz der hochgradigen Eindeutigkeit der Lage bei jeder spezifischen Maßnahme vor immensen Entscheidungsunsicherheiten«. Nicht zuletzt kommen »kollektiv geteilte Vorstellungen darüber hinzu, wie eine gute Gesellschaft aussehen sollte«. Im Ampel-Streit um das Gebäudeenergiegesetz würden demnach Parteien Konflikte austragen, die jeweils für eine der Integrationsdimensionen stehen: die Grünen für die der ökologischen, die SPD für die der sozialen und die FDP für die der Systemintegration. Schimanks Blick auf die Debatten, dem man den Luhmann ebenso anmerkt wie Meinungen über Klimabewegte oder kapitalismuskritische Überlegungen, muss man nicht in Gänze teilen; der Wechsel hin zu einer solchen Perspektive aber kann sehr nützlich sein nicht nur zum besseren Verständnis der Substanz des Konflikts, sondern auch für die Beantwortung der Frage, wie man sich dazu und darin verhält. »Es ging und wird weiter um das Kernanliegen der ökologischen Transformation gehen«, so Schimank, »wiewohl mit unterschiedlichen Prioritäten«. Diese Prioritäten sind es, die den politischen Raum strukturieren; und die den Unterschied machen zwischen einem auch für viele Linke noch ungewohnten Denken im Rahmen des ökologischen Paradigmas und einem, das die ökologische Frage lediglich als »mit zu bedenkende Randbedingung von System- bzw. Sozialintegration« ansieht. The Times They Are a-Changin’. Und deshalb ist »die heutige Balanceproblematik der Trias von Sozial-, System- und ökologischer Integration«, so noch einmal Schimank, »offenbar noch um einiges schwieriger als das, was in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als soziale Frage zu meistern war«.
#4 Apropos klimasoziale Frage. »Die größten Treiber des Klimawandels sind nicht die westlichen Gesellschaften. Es sind Wohlhabende weltweit«, trägt Sighard Neckel im Tagesspiegel noch einmal alle Argumente zusammen, die Überkonsum und Einfluss auf Investitionsentscheidungen von Hochvermögenden ins Zentrum klimapolitischer Diskussionen rücken. »Für die Klimapolitik hat dieser Befund weitreichende Konsequenzen«, so der Hamburger Soziologe, »der Kampf gegen den Klimawandel kommt daher nicht um eine wirtschaftliche Umverteilung herum… Kann es gerecht sein, von denjenigen, die schon jetzt auf dem angestrebten Emissionsniveau sind, erheblich größere finanzielle Anstrengungen für den Klimaschutz zu verlangen als von jenen, die in ihrem Kohlenstoffverbrauch teils dutzendfach darüber liegen und von der Klimakrise, die sie maßgeblich herbeiführen, am wenigstens zu spüren bekommen?« Neckels Antwort ist klar, er spricht von der »Verantwortung der Reichsten in unserer Gesellschaft«, die »aus einem weiteren wichtigen Grund eingeklagt werden sollte. Alle Klimaschutzmaßnahmen, die die allgemeine Bevölkerung treffen, diskreditieren sich selbst, wenn sie nicht auch die Reichen gemäß ihres hohen Emissionsanteils berühren.« Anders als viele, die jetzt auf die einschlägigen und verdienstvollen Forschungsarbeiten von Lucas Chancel und anderen verweisen; betont Neckel nämlich auch: »Die Frage zu stellen, wie viel Reichtum heute noch vertretbar ist, hat dabei nichts mit dem Suchen nach Sündenböcken für die ökologische Krise zu tun. Niemand kann bestreiten, dass sich auch wohlhabende Mittelschichten in ihrem konsumfreudigen Lebensstil einschränken müssen, soll der Klimawandel noch eingrenzbar sein.« Miriam Rehm, Vera Huwe und Katharina Bohnenberger gehen in ihrer lesenswerten Studie, die eine Vielzahl der Erkenntnisse über den Zusammenhang zwischen sozioökonomischer Ungleichheit und der biophysikalischen Existenzkrise zusammenfasst und auf die hohe Dringlichkeit von Maßnahmen zur Minderung von Ungleichheit als integraler Teil von Klimapolitik drängt, noch einen notwendigen Schritt weiter: Sie verweisen darauf, dass in der Bundesrepublik aktuell weniger als 1 Prozent der Bevölkerung einen 1,5-Grad-kompatiblen CO2-Fußabdruck hat. Über den schwierigen Weg, daraus innerhalb weniger Jahrzehnte 100 Prozent zu machen, von wegen Klimaziele, sollte man keine Illusionen verbreiten, indem man den Fokus ausschließlich auf die anderen 1 Prozent richtet. Für eine Rückkehr in gerechte und sichere planetare Grenzen werden wir unser aller Konsum, Alltag und Produktion gravierend verändern müssen.
#5 Und diese Veränderung muss womöglich schneller gehen als die »Balanceproblematik der Trias von Sozial-, System- und ökologischer Integration« erlaubt. »Der Juni 2023 könnte als Beginn eines großen Wandels im Klimasystem in Erinnerung bleiben«, fasst Inside Climate News die jüngsten Messdaten und Forschungsergebnisse über Hitzedome, Waldbrände und schwindendes Polareis zusammen - als Anzeichen dafür, »dass einige Systeme auf einen neuen Zustand zusteuern, von dem sie sich möglicherweise nicht mehr erholen«. Zitiert wird unter anderem der Klimaforscher Tim Lenton von der University of Exeter: »Diese außergewöhnlichen Extreme könnten eine frühe Warnung vor Kipppunkten in Richtung anderer Wetter-, Meereis- oder Feuerregime sein. Wir nennen es ›Flackern‹, wenn ein komplexes System kurzzeitig ein neues System ausprobiert, bevor es in dieses kippt. Hoffen wir, dass ich damit falsch liege.«