Klimanotizen 20
Wird die »entschleunigte Wärmewende« die »aufgeheizte Stimmung abkühlen«? Jedenfalls nicht die Physik des Planeten. Über »Moralkritik«, die von gesellschaftlicher Notwendigkeit nichts mehr wissen will, Slow-Heizungshammer, verdrängte Wissenschaft und eine für Linke wichtige Unterscheidung.
#1 Der Begriff der Entschleunigung hatte bisher etwas, wenn man so will: »Grünes« an sich; raus aus dem »Immer schneller, immer mehr« einer auf Output und Steigerungsraten orientierten Gesellschaftsweise, deren Reichtumsmehrung und Ressourcenkonsum zugleich auch jede Menge Stress produzierte. Slow-Bewegung, Verringerung des Ressourcenverbrauchs, Muße statt kapitalistisches Rattenrennen - das brachte man mit Entschleunigung zusammen. Bisher. Dass Slow-Retail, Slow-Food, Slow-Travel dabei selbst zu Marken einer Warenproduktion wurden, in der man sich »das Gute« leisten können muss, ist so richtig, wie »das Gute« gerade in Zeiten umstrittener Transformation beschleunigter Umdefinition anheimfallen kann - so wie dieser Tage in der FAZ, welche die Einigung der Koalition auf eine »Formulierungshilfe für einen Änderungsantrag zu dem Entwurf eines Gesetzes zur Änderung des Gebäudeenergiegesetzes, zur Änderung der Heizkostenverordnung und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung« als »entschleunigte Wärmewende« anpreist. Slow-Heizungshammer? Die Sache ist eigentlich zu ernst, um darüber zu lachen, wo dies doch geschieht, wird man Interessen vermuten dürfen. Denn vom ursprünglichen Gesetzentwurf »ist nicht viel übrig geblieben. Mehr noch: Selbst die bestehende Rechtslage wird zum Teil gelockert«. Der Kompromiss hat Folgen, die mit Bernd Ulrich recht kurz beschrieben werden können: »später heißt heißer«. Die FAZ schreibt, »Klimaschützern mag das wie Frevel erscheinen. Aber gerade in ländlichen Regionen dürfte dies helfen, die aufgeheizte Stimmung abzukühlen.« Das Spiel mit den Wörtern wird uns schon bald in ausgetrockneten Hälsen stecken bleiben. Passend aber auch wenig Trost bietend, dass die Sonntagsausgabe der Frankfurter Allgemeinen meldet: »Der Bundestag ist im Krisenmodus. Die Zukunft verliert er dabei aus dem Blick.«
#2 Apropos aufgeheizte Stimmung. »Hitzewellen in #Europa werden häufiger, intensiver und länger anhalten«, daran hat gerade noch einmal der Intergovernmental Panel on Climate Change der UN erinnert, jenes mit IPCC abgekürzte Gremium zur Bewertung der wissenschaftlichen Erkenntnisse zum Klimawandel, die in der Debatte um das deutsche Gebäudeenergiegesetz hinter Kulturkämpferei, Wutbewirtschaftung und Oppositionsgehabe zurücktreten mussten. »Bis 2050 könnte etwa die Hälfte der europäischen Bevölkerung im Sommer einem hohen oder sehr hohen Risiko von Hitzestress ausgesetzt sein«, so der IPCC, man kann das ausführlicher alles unter anderem hier nachlesen. Und? Eine aktuelle Studie zeigt, »dass ein Anstieg der durchschnittlichen Jahrestemperatur um 1 Grad mit einem Anstieg der Vorfälle körperlicher und sexueller häuslicher Gewalt um mehr als 6,3 Prozent in drei südasiatischen Ländern verbunden ist.« Man darf annehmen, dass dies nicht nur dort so ist. Beim Robert-Koch-Institut heißt es mit Blick auf die Bundesrepublik: »In den Sommermonaten führen hohe Außentemperaturen regelmäßig zu deutlich erhöhten Sterberaten, insbesondere in älteren Altersgruppen.« Und zwar unabhängig von der Heizung, die diese im Keller haben - aber eben nicht unabhängig von der Art, in der wir alle heizen. Das Umweltbundesamt sieht »für Mensch und Umwelt ein hohes Schädigungspotenzial« von Hitzewellen. Und Hitze führt vermehrt zu Frühgeburten, wie eine aktuelle Studie des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf zeigt: »Hitzestress von 30 Grad erhöhte das Risiko einer Frühgeburt, also vor der 37. Schwangerschaftswoche, um 20 Prozent; bei Temperaturen von mehr als 35 Grad lag das Risiko sogar bei fast 45 Prozent.« Konnte man übrigens in der FAZ nachlesen, die mit der »entschleunigten Wärmewende«.
#3 Inzwischen sind Umfragen, die nachweisen sollen, dass radikale Klimaproteste bei den Bundesbürgerinnen nur wenig Unterstützung finden, so etwas wie ein eigener Geschäftszweig demoskopischer Aufmerksamkeitsproduktion geworden; gerade erst wieder teilte der SWR Zahlen mit, die der Mehrheit ein gutes Gefühl verschaffen dürften: » So hält es aktuell nur jeder Achte (13 Prozent) für gerechtfertigt, Straßen und Verkehr zeitweise zu blockieren, um damit seinen Standpunkt beim Umwelt- und Klimaschutz zur Geltung zu bringen. 85 Prozent betrachten diese Protestform als nicht legitim.« Genauer hat das Wissenschaftszentrums Berlin für Sozialforschung hingeschaut, indem es auch der Frage nachgegangen ist, »wie Klimaprotest und Präferenzen für den Klimaschutz zusammenhängen. Führen unterschiedliche Klimaaktionen dazu, dass Menschen ihre Einstellungen zur Klimapolitik ändern und diese zum Beispiel weniger unterstützen?« Ergebnis der Studie: »Obwohl radikale Protestformen von der Mehrheit abgelehnt werden, überträgt sich die negative Dynamik nicht auf die individuellen Präferenzen für den Klimaschutz. Konfrontiert mit den verschiedenen Protestformen zeigen alle Befragten eine gleich hohe Zustimmung für die Aussage, dass die Bundesregierung den Klimawandel entschiedener bekämpfen sollte. Die Zustimmungswerte liegen zwischen 52 und 55 Punkten.« In der »Zeit« hat sich Lenz Jacobsen die Ergebnisse angesehen und will innerhalb des engen methodischen Rahmens dieser Studie etwas Verstecktes entdeckt haben: »eine Ernüchterung in jeder Hinsicht: Wie genau Klimaaktivisten protestieren, hat überhaupt keinen direkten messbaren Effekt auf die Haltung der Deutschen zum Klimaschutz.« Ob eher rechts eingestellt oder eher links eingestellt - egal, mit welcher Protestform jemand konfrontiert ist, ändere seine Position zu Klimaschutz nicht.
#4 Keine Position zum Klimaschutz - das ist die Losung der Union. In einer Mischung aus Landtagswahlkampf (Bayern, Hessen), innerparteilichem Richtungsstreit (Merz versus Günther, Wüst) und Triggerwort-Surfing (»ideologische Moralpolitik!«) haben die Spitzen von CDU und CSU dieser Tage eine »Agenda für Deutschland« vorgestellt, die im Folgenden lieber nicht abgekürzt wird, um Verwirrung zu vermeiden. Neben Absagen an »Heizungsverbot« und »Verbrennerverbot« werden parteipolitisch gemünzte Parolen wie »Klimaschutz statt Klimakleber« aneinandergereiht, die einer weiteren Kommentierung unwürdig sind. Entscheidender ist der Geist, den das Papier atmet. Den hat Carel Mohn treffend seziert, als Twitter noch funktionierte: Das Herumreiten der Union auf, besser gegen Moral im öffentlichen Diskurs werfe die Frage auf, »worüber aber soll der öffentliche Diskurs sonst geführt werden, wenn nicht über die Frage ›Was ist richtig? Was ist falsch?‹« Mit ihrer Absage an »ideologische Moralpolitik« (das Adjektiv soll den Buhmann noch schrecklicher erscheinen lassen) bringe die AfD, ups, jetzt ist es doch passiert, also: bringe die Agenda »ein spezielles Freiheitsverständnis ins Spiel«, so Mohn, das unter anderem darin bestehe, »nicht von den Moralvorstellungen anderer behelligt zu werden. Wie aber soll man ein Denken oder Verhalten bezeichnen, dass sich nicht an moralischen Maßstäben messen lassen will?« Dazu passt eine Bemerkung des französischen Essayisten Pascal Bruckner, die dieser in einem etwas anderen Zusammenhang formulierte, den man kritisch diskutieren kann, was aber die Bemerkung selbst nicht schon dümmer macht: Er spricht von einer »moralischen Verwilderung«, die »auf einen übersteigerten Individualismus, der gesellschaftliche Notwendigkeiten nicht mehr anerkennen will«, zurückzuführen sei; »der Bürger der modernen Demokratie ist gleichzeitig ein verwöhntes Kind, (…) als Kunde ist er ein König, dessen Wünsche auf dem Marktplatz heilig sind. (…) Das Recht, Rechte zu haben, verkehrt sich in das Recht, alle Rechte zu haben, wobei diese mit dem eigenen Wohlbefinden gleichgesetzt werden: Jede Einschränkung oder Behinderung macht mich zum Opfer und legitimiert meine Wut.« Die Agenda der Union lässt sich interpretieren als Ausdruck dieser moralischen Verwilderung, die im Kleid der Moralkritik auf die Bühne tritt, um ihre Nichtanerkennung gesellschaftlicher Notwendigkeiten zu verbergen.
#5 Notwendigkeiten? Davon spricht man nicht gern in Zeiten, in denen schon ein reich geförderter Heizungstausch das Ende der Fahnenstange markiert. Aber man muss über sie reden. »In der FR muss Stephan Lessenich einsehen, dass rechte Politik unmoralischer, aber eventuell attraktiver ist als linke«, fasst der Perlentaucher eine Passage aus einem Interview mit Stephan Lessenich zusammen, der sich darin womöglich nicht ganz wiederfinden wird, aber die Verkürzung trägt hier auch zur Erhellung bei. »Der Erfolg von rechten Angeboten«, so Lessenich zunächst in allgemeiner Absicht, dann aber konkret auf die biophysikalische Existenzkrise bezogen, liege »nicht nur darin, dass sie ausbeutbare Emotionen und Affekte wecken, sondern es werden auch knallharte Interessen angesprochen. Eine Bevölkerungsmehrheit in den reichen Industrieländern weiß, was sie zu verlieren hat«, nicht zuletzt »durch wirklich durchgreifende Maßnahmen gegen den Klimawandel, durch ein radikal anderes Energieregime dieser Gesellschaft oder ein Ende des Wachstumskurses und die Forderung nach Verzicht. Seinen eigenen Lebensstandard zu verlieren, kann rationaler Weise niemand wollen. Wenn sich dann jemand anbietet, diesen zu schützen, wie die politische Rechte, ist das erst einmal ein attraktives Angebot.« Dass sich die Union gern verbittet, zur »Rechten« hinzugezählt zu werden, ist bekannt, dass eine gewisse Begriffsübernutzung der für Kritik nötigen Genauigkeit bei der Bezeichnung von Akteuren nicht zuträglich war und ist, stimmt wohl ebenso. Als Kategorie der Unterscheidung, zu der unter anderem Norberto Bobbio weiterhin Geltung beanspruchende »Gründe und Bedeutungen« formuliert hat, wird man sie deshalb nicht fallen lassen, vielleicht etwas differenzierter gebrauchen. Aber zurück zu Lessenich, der in dem Interview die Herausforderung für eine Linke beschreibt, die sich zwischen ihrer eigenen Variante der Moralkritik und Oppositionsparolen nicht verlaufen möchte: Diese »müsste zeigen, wie unsere alltägliche Lebensführung und unsere gesellschaftliche Normalität abhängig sind von Voraussetzungen, die anderswo erbracht werden müssen, und von Folgen, die wir entweder nicht wahrhaben wollen oder immer noch einigermaßen von uns fernhalten können. Wir leben in einer Gesellschaft, deren Freiheiten davon abhängig sind, anderen Unfreiheit zuzumuten.« So einfach von den »Interessen der Mehrheit« zu reden, in deren Sinne man handele, kann das noch als links sich ausgeben, wenn die Unterscheidung, die Lessenich anmahnt, viel zu oft nicht vollzogen wird?