Schubumkehr, Keynes und die Wachstumsfrage
Über den Ruf nach Notbremsen, die Rolle von Verzicht und Wachstum, linkes Anknüpfen an den Keimformen neuer Verhältnisse - und die »Notwendigkeit, uns völlig neu in der Zeit zu orientieren«.
Wenn das Handelsblatt textet, es sei »an der Zeit, die Notbremse beim Klimaschutz zu ziehen«, liegt es nicht allzu fern, von einem antiökologischen Plädoyer auszugehen. Tatsächlich aber geht es in besagtem Kommentar von Kevin Knitterscheidt darum, eine des Autors Meinung nach entscheidende Bremse beim Klimaschutz zu lösen: »Der alleinige Glaube an die Technologie ist naiv. Ohne Verzicht wird es nicht gehen.« Wer da auf was verzichten müsste und könnte, wäre zu diskutieren und gesellschaftlich auszuhandeln; in Zeiten in denen ohne weitere Differenzierung jede Reduktion zum »Wohlstandsverlust« oder zur »Gefahr für unsere Wirtschaft« erklärt wird, ist das keine leichte Auseinandersetzung. Nicht nur die CO2-Reduktion muss, wie Knitterscheidt schreibt, »radikal beschleunigt werden«. Es geht insgesamt um ein Weniger, das hinten heraus Mehr ist. Dass hier ordnungspolitische Eingriffe auf der Produktionsseite nicht links liegen gelassen werden dürfen, ist so richtig, wie der Hinweis auf den exorbitanten Naturverbrauch von »Superreichen« nicht schon alle Fragen beantwortet. Hinzu kommt der Zeitfaktor. »Eine schonende und schrittweise Transformation, wie sie von Politik und Wirtschaft bevorzugt wird, kann das nicht mehr gewährleisten. Daraus ergeben sich harte Konsequenzen«, so Knitterscheidt.
Diese betreffen alle gesellschaftlichen Bereiche, und nicht zuletzt lasten die Folgen eines komplex ineinander verwobenen Verhältnisses von Handeln und Nicht-Handeln auf das, was als Zukunft heute noch vorgestellt werden kann. In einem Essay geht Jonas Schaible der Frage nach: »Was, wenn die besten Jahre vorbei sind?« Von Belang ist hierbei, von welchem Hintergrund aus man die Begriffe »wenn«, »besten« und »vorbei« versteht: die Frage, wie schlimm es bereits ist; die Frage, was als gut, sinnvoll, erstrebenswert betrachtet wird; und die Frage, wie man sich ein Danach vorstellt und in welchem Kontrast, Verhältnis es zu dem Jetzt steht. Zeitdimension, Wertedimension, Fortschrittsdimension.
Wer die Augen vor den Hinweisen der Wissenschaft nicht verschließt, wird Schaible nicht widersprechen wollen: »Das bedeutet, allgemeiner gesagt, dass die klimatisch besten Jahre vorbei sind. Das bedeutet wiederum, dass es auch ökonomisch und politisch womöglich nicht mehr besser wird. Dass es im Gegenteil sogar tendenziell schlechter wird, härter, chaotischer, krisenhafter, extremer, instabiler. Oder jedenfalls: Dass es sehr viel schwieriger wird, aufwändiger, komplizierter, den Umständen das gute Leben abzuringen.« Und weiter: »Wir stehen nicht am Ende von allem, nur am Ende der begründeten Hoffnung auf das ›immer besser‹, das natürlich, dazu gleich mehr, bis zu einem gewissen Grad immer eine Illusion war, ein Selbstbetrug. Es bedeutet dennoch eine Schubumkehr der Geschichte. Die Notwendigkeit, uns völlig neu in der Zeit zu orientieren, politisch, als Gesellschaft, als Einzelne.«
Die Frage, ob »wir« darauf auch »nur ein kleines bisschen vorbereitet« seien, wird man in der gesellschaftlichen Linken nicht schon für hinreichend beantwortet halten dürfen. Siehe die Wachstumsfrage. Branko Milanovic hat dazu in einem Text über »Hayek’schen Kommunismus«, der sich um die Rolle von (kapitalistischem) Reichtum und Erfolg in China dreht, einen Gedanken formuliert: Neben Aspekten gesellschaftlicher Modernisierung sei »schnelleres Wachstum als im Kapitalismus« die »logische Grundlage und Legitimation der kommunistischen Revolutionen in der weniger entwickelten Welt« gewesen. Er erinnere sich, wie er »als frühreifer Schüler in Jugoslawien die Zeitungen nach Indikatoren für das Industriewachstum scannte. Weil Jugoslawien damals zu den am schnellsten wachsenden Volkswirtschaften der Welt zählte, war ich zutiefst enttäuscht, wenn die monatliche Wachstumsrate (annualisiert) unter zehn Prozent fiel. Ich dachte, dass zehn Prozent die normale Wachstumsrate kommunistischer Volkswirtschaften war: Warum sollte man sonst kommunistisch werden, wenn man nicht schneller wuchs als im Kapitalismus?«
Dazu passt ein schon etwas älterer Gedanke, hier in der von Hans Thie formulierten Version: »Die Linke ist derzeit ohne Strahlkraft, weil sie nicht verstanden hat, dass das gesamte sozialistische Erbe nur noch dann einen Sinn hat und nur dann neue Kraft entfalten kann, wenn es im Angesicht ökologischer Grenzen neu buchstabiert wird.« Ob nun in damals Jugoslawien oder heute in der Bundesrepublik, es sind Folgen des Wachstums, weshalb nun über Notbremsen und Schubumkehr zu sprechen ist. Über die Linken »alter Schule« noch einmal Thie: »Bislang gingen sie davon aus, dass das verwirklichte Recht auf Naturaneignung irgendwann sozialistische Verhältnisse erfordere, weil die Naturaneignung so umfassend werde, dass für ihre Beherrschung die bornierten bürgerlichen Formen nicht mehr passen. Angesichts der ökologischen Herausforderungen ist der Zug zum Sozialismus aber nicht aus dem verwirklichten Recht auf Naturaneignung zu begründen, sondern aus der nötigen Pflicht zur Naturerhaltung.«
Wozu man vom Wachstums weg müsste. Oder? Dass »Transformation« stets »sozial gerecht« sein sollte, soll hier nicht bestritten werden; die um die nationalen, regionalen und globalen Ungleichheitsproblem gewundenen Fallstricke sind bekannt, wer sie nicht mitdenkt, wird dafür einen Grund haben. Selbst der ökologischste und gerechteste Umbau aber kann sich über biophysikalische Gesetze nicht erheben; materielle Grenzen, Entropie, die Komplexität planetarer Subsysteme - all das zwingt dazu, Zukunft »out of the Box« zu denken. Und das heißt hier eben auch: außerhalb von herkömmlichen Wachstumsvorstellungen, außerhalb produktivitistischer Annahmen, außerhalb dessen, was im Wesentlichen bisher als Fortschritt galt.
Robert Misik hat das anhand eines der »berühmtesten und zugleich verstörendsten« Texte der Wirtschaftstheorie erläutert; an John Maynard Keynes Vortrag über die »Wirtschaftliche Möglichkeiten für unsere Enkelkinder«. Darin wird 1930 prognostiziert, der Lebensstandard in den fortschrittlichen Ländern werde »achtmal so hoch sein (...) wie heute«; die Menschheit sah Keynes am Zuge, »ihr ökonomisches Problem zu lösen«, dies würde zu neuen moralischen Maßstäben gegenüber materiellen Fragen führen. Wie treffend die Vorhersage war, mag man diskutieren. Misik geht darüber hinaus: »Die Fragen, die Keynes umkreiste, sind auch heute noch virulent – um nicht zu sagen, wieder virulenter. Wie können wir eine Wirtschaftsweise etablieren, die Wohlfahrt wachsen lässt und ein gutes Leben ermöglicht? Wieweit muss der Staat die Wirtschaft steuern, um nötige Investitionen aus dem Griff von privaten Investitionsmärkten zu befreien? Wieviel ›privat‹ können wir uns leisten, wenn wir sehen, dass plötzliche Instabilitäten fatale Auswirkungen auf Einkommen und Kaufkraft haben, sodass es für viele sogar schwierig wird, ihre Wohnungen zu heizen? Und wie geht das alles zusammen mit der Jahrhundertaufgabe des ökologischen Umbaus, um die Klimakatastrophe abzuwenden? Geht das alles? Und wie stellt man sicher, dass ein ›starker Staat‹ dann nicht zur Quelle von Kommandowirtschaft und Gängelei wird, sondern zum Hüter von menschlicher Freiheit?«
Einen Vorschlag für eine Antwort kolportiert Stephan Kaufmann (zwischen Sarkasmus und Skepsis): »Regierungen wollen Wirtschaftswachstum, weil daran die Prosperität des Standortes hängt. Die Eigentümerinnen und Eigentümern der Unternehmen wollen Wachstum, weil daran ihre eigene Prosperität hängt. Von beiden ist daher nicht mehr zu erwarten als der löbliche Versuch, die Zunahme des Bruttoinlandsprodukts umweltverträglich zu gestalten, und man fragt sich: Was wird geopfert, wenn das nicht klappt? Das Wachstum ja eher nicht.« Wenn also weder Staat noch Kapital allein »Willens oder in der Lage sind, tiefgreifende Veränderungen am System vorzunehmen, muss der Rest der Gesellschaft sich in die zentralen Entscheidungsstrukturen einbinden.« Dazu habe Isabelle Ferreras eine Idee: Demokratisierung. »Zu diesem Zweck sollten Unternehmen nicht nur von den Kapitalinvestoren gesteuert werden, sondern gleichberechtigt auch von den ›Arbeitsinvestoren‹, also den Beschäftigten. Beide zusammen bilden die Generalversammlung, die den Vorstand wählt, bestehend aus zwei Kammern: den Vertretern der Eigentümerinnen und Eigentümern und denen der Arbeit.« Ob es so gelingt, »das Geschäft auf regeneratives Wirtschaften« umzustellen?
Immerhin geht die Überlegung über den begrenzten Horizont sozialstaatlicher Abfederung hinaus. Darüber, wie »eine progressive Neuordnung der wirtschaftspolitischen Regulation« an die »defensive Restrukturierungspolitik« der Bundesregierung in Zeiten von Energiekrise und Inflation anknüpfen könnte, steuert Tilman von Berlepsch Gedanken bei. Diese koppeln in der Wirklichkeit an und suchen dort nach Keimformen neuer Verhältnisse, um das, was ist, aufzuheben und über sich selbst hinauszutreiben. Seine Skizze einer »transformations- und klassenorientierten Wirtschaftspolitik« zielt auf »expansive Lohnpolitik bei gleichzeitiger Preiskontrolle«. Außerdem geht es um Richtung und Substanz staatsinterventionistischer Wirtschaftspolitik: ob es hauptsächlich darum geht, »den nationalen Verwertungsprozess vor der verschärften internationalen Konkurrenz zu schützen« - oder ob man auf ein ordnungspolitisch Regime drängt, das »investitionslenkend wirkt und auf langfristig gute und ökologisch nachhaltige Arbeit abzielt, Innovation befördert und Kooperation statt Konkurrenz in den Vordergrund stellt«, das würde ja einen Unterschied ums Ganze machen.
Allerdings steht auch hier wieder die Frage, ob dies eine Alternative in einem zu beschränkten Rahmen bleibt, wenn als Ziel formuliert wird, »eine krisenhafte De-Industrialisierung zu verhindern und das heutige Wohlstandsniveau zu erhalten«. Von Berlepsch kommt am Ende auf die Notwendigkeit zu sprechen, »das deutsche Wachstumsmodell in Gänze in Frage zu stellen«. Ja, eben. Nicht nur das. (tos)