»Handfeste gesellschaftliche Interessen zu überwinden« (1972)
Eine menschenwürdige Umwelt als soziales Grundrecht - davon ausgehend drängt die DGB-Spitze vor über 50 Jahren auf gesamtwirtschaftliche Mitbestimmung, öffentliche Planung, wirksame Kontrollen und soziale Absicherung von Umweltschutz. Aus dem Archiv linker Debatte.
// Der Deutsche Gewerkschaftsbund betrachtet die zunehmende Verschmutzung und Vergiftung der Umwelt mit großer Sorge.
Gewerkschaftsarbeit erschöpft sich nicht in der Regelung der Entlohnung und der übrigen Arbeitsbedingungen; vielmehr nahmen die deutschen Gewerkschaften schon immer eine politische Gestaltungsaufgabe in Anspruch, die sie auch im Rahmen des Umweltschutzes ausüben werden. Solange die Gewerkschaften bestehen, haben sie das konkrete gesellschaftliche Ganze der Arbeitnehmerinteressen vertreten und dem Wohle der Bevölkerung gedient. Sie ordnen ihre Forderungen zur Umweltpolitik in den Rahmen ihres Grundsatz- und Aktionsprogramms und ihrer entsprechenden Entschließungen zu diesen Problemen ein.
Bisher wurden die Umweltschäden kaum beachtet und Auflagen häufig umgangen. Die Kosten der Umweltschäden wurden bisher auf Grund der einzelwirtschaftlichen Rechnungslegung nicht erfaßt.
Der DGB betrachtet das Recht auf eine menschenwürdige Umwelt als ein soziales Grundrecht, dem der gleiche Rang zukommt wie Gesundheit, Bildung, soziale Sicherheit oder angemessene Wohnung und humaner Städtebau. Es ist die Aufgabe eines modernen Sozialstaates, dafür Sorge zu tragen, daß eine menschenwürdige Umwelt gewährleistet wird. Der DGB geht auf Grund geschichtlicher Erfahrung davon aus, daß zwischen einer humanen Arbeitswelt, einer humanen Gesellschaft und einer menschenwürdigen Umwelt ein unauflösbarer Zusammenhang besteht.
Umweltpolitik ist Gesellschaftspolitik und nicht nur eine technologische Aufgabe. Die allseitige Zustimmung und die allgemeine Forderung nach einer wirksamen Umweltpolitik kann nicht darüber hinwegtäuschen, daß bei der Aufstellung und Durchsetzung von konkreten Programmen handfeste wirtschaftliche und gesellschaftliche Interessen zu überwinden sind. Spätestens bei der Frage der Verantwortlichkeit und der Lastenverteilung endet die oft nur vordergründige Einmütigkeit.
Eine weitere Vernachlässigung des Umweltschutzes kann jedoch dem Bürger nicht mehr länger zugemutet werden. Auch die Umweltpolitik leistet einen Beitrag dazu, daß die Freiheitsrechte des einzelnen im Rahmen einer erhöhten Qualität des Lebens gesichert und erweitert werden. (…)
Umweltschutz und Wirtschaftsordnung
Umweltschutz hat einen hohen sozialen Stellenwert. Daher kann Umweltschutzpolitik nicht auf moralische Appelle beschränkt bleiben; sie kann auch nicht auf das gesamtgesellschaftliche Verantwortungsgefühl und die Einsicht der Unternehmer hoffen oder allein auf den Marktmechanismus bauen.
Umweltschutz als gesellschaftliche Aufgabe darf nicht nur der privaten Entscheidungsbefugnis der Unternehmer überlassen bleiben. Hier sind öffentliche Planung und wirksame Kontrollen notwendig.
Der DGB hat sich wiederholt für eine gesamtwirtschaftliche Rahmenplanung und für eine Investitionslenkung ausgesprochen. Gerade die Umweltplanung muß ein Beispiel einer solchen gesellschaftlichen Planung sein. Allgemeine Investitionen und spezielle Umweltschutzinvestitionen müssen in Gesamtwirtschafts-, Regional- und Branchenstrukturplänen erfaßt und kontrolliert werden. Es widerspricht dem Grundanliegen des Umweltschutzes, daß größere Investitionen ohne Einbeziehung in umfassende Infrastrukturpläne, Raumordnungspläne und Umweltschutzpläne und ohne Berücksichtigung der bestehenden und noch zu definierenden Auflagen vorgenommen werden.
Daher fordert der DGB, daß in erster Linie unmittelbare Auflagen und gesetzliche Gebote bei der Bekämpfung der Umweltschädigung angewendet werden. Der Marktmechanismus kann auf Grund seiner Eigenart die Umweltschutzprobleme allein nicht lösen. Nur direkte Maßnahmen auf der Grundlage gerichtlich anwendbarer Maßstäbe zeitigen eindeutige Wirkungen und gewährleisten die geforderte Transparenz.
Je stärker in diesem Bereich indirekte finanz- und steuerpolitische Mittel angewendet werden, desto unübersichtlicher wird das Steuersystem und desto weniger sicher ist die Wirkung, die angestrebt wird. Auflagen und Gebote heben die Marktwirtschaft nicht auf, sondern entwickeln sie entsprechend den gesellschaftlichen Bedürfnissen fort.
Umweltschutz und Wirtschaftswachstum
Eine ungesunde Umwelt ist eine Herausforderung der modernen industriellen Wirtschaft an die Menschen. Der bisherige volkswirtschaftliche Zielkatalog — Vollbeschäftigung, Preisstabilität, außenwirtschaftliches Gleichgewicht, Wirtschaftswachstum — muß nicht nur, wie die Gewerkschaften schon immer gefordert haben, durch eine gleichmäßige Vermögensverteilung ergänzt werden, sondern auch durch die Aufrechterhaltung des ökologischen Gleichgewichts.
Es ist falsch, zu behaupten, durch die Belastungen der Umweltschutzpolitik würden die Unternehmen veranlaßt, ins Ausland abzuwandern. Mit der zunehmenden Harmonisierung der Schutzbestimmungen in der EWG und im weiteren internationalen Rahmen verlieren die Umweltschutzauflagen für die Standortwahl an Bedeutung. Umweltschutz ist im übrigen nur einer von vielen Standortfaktoren für die Unternehmungen.
Die Auffassung, Umweltschutzmaßnahmen und Umweltschutzinvestitionen seien generell wachstumsmindernd, ist unzutreffend. Sie fördern neue (umweltfreundliche) Technologien, erhöhen die Produktivität, schaffen neue Arbeitsplätze, führen zur Wiedergewinnung von Rohstoffen und zur Entwicklung neuer umweltfreundlicher Produkte.
Die Gewerkschaften vertreten seit langem die Auffassung, daß sich unkontrolliertes Wirtschaftswachstum in entscheidenden Punkten gegen die Interessen der Arbeitnehmer richten kann. Aus diesem Grunde haben sie die Arbeitsschutzpolitik entwickelt und ausgebaut. Aus dem gleichen Grunde haben sie sich für Arbeitszeitverkürzungen eingesetzt.
Die primäre Lebensfrage der modernen Gesellschaft ist nicht mehr nur das Pro-Kopf-Einkommen der Bevölkerung. Die Verbesserung der Lebensqualität der Bürger gewinnt immer stärkere und gleichberechtigte Bedeutung. Diese Haltung wird auch durch die Anerkennung des Rechts auf eine menschenwürdige Umwelt als soziales Grundrecht unterstrichen. Ein wirksamer Umweltschutz wird in hohem Maße die Lebenslage der Menschen verbessern.
Umweltschutz und demokratische Entscheidung
Der DGB fordert, daß die Gewerkschaften in allen sachverständigen Gremien, in allen Kommissionen und Ausschüssen entsprechend ihrer Bedeutung beteiligt werden. Das erstreckt sich insbesondere auf die Mitbestimmung an der laufenden Planung, an der Meßdatenermittlung, an der Erstellung von Kosten-Nutzen-Analysen sowie an der Definition des Verursacherprinzips.
Nur so kann eine von einseitigen Interessen freie Umweltpolitik betrieben werden. Wenn diese Forderung erfüllt wird, kann die Umweltschutzpolitik von den gesellschaftlichen Gruppen Zustimmung erhalten und unterstützt werden.
Der Umweltschutz und seine vielfältigen gesamtwirtschaftlichen und politischen Probleme veranlassen den DGB, verstärkt auf die Notwendigkeit einer gesamtwirtschaftlichen Mitbestimmung hinzuweisen. Es muß ein gesamtwirtschaftliches Gremium eingerichtet werden, in dem diese Fragen diskutiert werden können und in dem die gesellschaftlichen Gruppen bei der Planung des Umweltschutzes und der Investitionen mitbestimmen können.
Durch die Umweltschutzpolitik kann unter Umständen die Arbeitsplatzsicherheit berührt werden. Die Arbeitnehmer müssen an der Unternehmensplanung stärker beteiligt werden. Außerdem sind neben mittel- und langfristigen Investitionsplänen auch entsprechende Personalpläne einzuführen, um Konflikte frühzeitig erkennen zu können und nicht erst, wenn der Schaden eingetreten ist. Personal- und Sozialplanung bieten für alle Fragen der Arbeitsplatzsicherung die notwendigen Grundlagen.
Jede Umweltpolitik muß, soweit sie die Arbeitsplatzsicherheit berührt, in ein Bündel von Sozialmaßnahmen eingebettet werden. (…) //
aus den Leitsätzen des Deutschen Gewerkschaftsbundes zum Umweltschutz, die der DGB-Bundesvorstand am 29. Mai 1972 verabschiedet hat und die den Delegierten des Neunten Ordentlichen DGB-Kongresses als Anlage zu den dort verabschiedeten Anträgen zum Umweltschutz vorlagen.