»Ende der Ausbeutung« (1988)

Vor 35 Jahren startete die IG Metall eine Serie von Zukunftsforen mit einer Tagung, zu welcher der Politologe und Marx-Forscher Iring Fetscher Gedanken über »die notwendige Kurskorrektur« beisteuerte, »die uns vom Wachstumszwang der Konsumgesellschaft freimacht«. Aus dem Archiv linker Debatte.

// In der XI. These »über den Begriff der Geschichte« seiner gesammelten Schriften übt Walter Benjamin scharfe Kritik an der Auffassung von Arbeit und Natur in der älteren deutschen Sozialdemokratie: Es gibt nichts, meint Benjamin, was die deutsche Arbeiterschaft in dem Grade korrumpiert hat, wie die Meinung, sie schwimme mit dem Strom.

Die technische Entwicklung galt ihr als das Gefälle des Stromes, mit dem sie zu schwimmen meinte. Von da an war es nur ein Schritt zu der Illusion, die Fabrikarbeit, die im Zuge des technischen Fortschritts gestiegen war, stelle bereits eine politische Leistung dar.

Die Meinung, jeder technische Fortschritt sei mit einer Verbesserung der Lebensbedingungen für alle verbunden, hat sich freilich bis in die Gegenwart hinein - und nicht nur bei Sowjetmarxisten - erhalten. Benjamin zitiert einen Ausspruch von Josef Dietzgen, der diese Art der Technikbegeisterung besonders drastisch zum Ausdruck bringt: »Arbeit heißt der Heiland der neuen Zeit ... In der Verbesserung ... der Arbeit ... besteht der Reichtum, der jetzt vollbringen kann, was bisher kein Erlöser vollbracht hat«; und Benjamin fügt hinzu: »Dieser vulgär-marxistische Begriff von dem, was die Arbeit ist, hält sich bei der Frage nicht lange auf, wie ihr Produkt den Arbeitern selber anschlägt, solange sie nicht darüber verfügen können. Er will nur die Fortschritte der Naturbeherrschung, nicht die Rückschritte der Gesellschaft wahrhaben. Er weist schon ... technokratische Züge auf ... Zu diesen gehört ein Begriff der Natur, der sich auf unheilverkündende Art von dem in den sozialistischen Utopien des Vormärz abhebt. Die Arbeit, wie sie nunmehr verstanden wird, läuft auf die Ausbeutung der Natur hinaus, welche man mit naiver Genugtuung der Ausbeutung des Proletariats gegenüberstellt. Mit dieser positivistischen Konzeption verglichen, erweisen die Phantastereien ... eines Fourier ... ihren überraschend gesunden Sinn.« Sie symbolisieren nämlich (nach Benjamin) »mit all ihrem Überschwang im Grunde eine Art von Arbeit, die, weit entfernt, die Natur auszubeuten, von den Schöpfungen sie zu entbinden imstande ist, die als mögliche in ihrem Schoße schlummern.«

Im Gegensatz zu einer derartigen Art der Produktion, die Ernst Bloch später als »Allianztechnik« bezeichnete, als Technik im Bündnis mit der Natur, statt im herrschaftlichen Gegensatz zu ihr, gehörte zu dem »korrumpierten positivistischen Begriff der Bearbeitung der Natur« als Komplement die Natur, welche, wie Dietzgen sich ausgedrückt hat »gratis da ist«.

Mit dem Verständnis von Arbeit und Technik als Naturbeherrschung und Ausbeutung hat sich Benjamin schon 1928 in der Aphorismussammlung »Einbahnstraße« auseinandergesetzt. »Naturbeherrschung«, so stellt er dort fest, sei in der Gegenwart »Sinn aller Technik«, und kommentiert diese These mit folgendem Bild: »Wer möchte aber einem Prügelmeister trauen, der Beherrschung der Kinder durch die Erwachsenen für den Sinn der Erziehung erklären würde? Ist nicht Erziehung vor allem die unerläßliche Ordnung des Verhältnisses zwischen den Generationen und ..., wenn man von Beherrschung reden will, Beherrschung der Generationsverhältnisse und nicht der Kinder? Und so ist auch Technik nicht Naturbeherrschung, (sondern) Beherrschung vom Verhältnis von Natur und Menschheit.« (Gesammelte Schriften IV, 1 S.147)

Benjamin hat das Thema angeschlagen, das erst in den letzten zehn Jahren mehr und mehr Menschen in den industrialisierten Gesellschaften bewusst geworden ist. Die Natur lässt sich so wenig ungestraft ausbeuten wie der Mensch. Wir können sie nicht behandeln wie ein Eroberer ein fremdes Land, so hat schon Friedrich Engels gemahnt. Die misshandelte und unterdrückte Natur rächt sich am Menschen.

Das gilt für seine eigene Natur, wie für die ihn umgebende und tragende, ohne die er nicht zu leben vermag. Die spekulativen Antworten auf das Problem des Verhältnisses Mensch-Natur, die Walter Benjamin und Ernst Bloch geben, können freilich nicht mehr sein als nachdrückliche Hinweise auf die Notwendigkeit einer »Kurskorrektur«- (…)

Das vermutlich bedeutsamste Hemmnis für diese notwendige »Kurskorrektur« ist die bequeme Erfahrung, die die meisten Politiker mit dem sozialen Frieden, der durch die ständigen Wachstumserwartungen - in Ergänzung des Wohlfahrtsstaates - besser wurde, gemacht haben.

Ein Wirtschaftswachstum von fünf und mehr Prozent erlaubte es, zugleich die Unternehmensgewinne, die Reallöhne und die Renten zu steigern. Bei verringertem oder Nullwachstum werden Einkommensunterschiede, die in einer ständig wachsenden Wirtschaft erträglich schienen, vermutlich inakzeptabel. Die Verteilungskämpfe verschärfen sich. Es wird daher notwendig, die Einkommensdifferenzen zu verringern, die Lebensverhältnisse der Bevölkerung einander anzunähern. Auch wenn die Verteilung des Einkommens heute keineswegs der individuellen Leistung entspricht, ist doch die Ansicht weit verbreitet, dass zwischen beiden ein direkter Zusammenhang bestehe. Dabei wird meist von der realen sozialen Nützlichkeit einzelner Leistungen abstrahiert, und auch die Frage des gerechten Ausgleichs für Arbeitsleid und Arbeitslast spielt kaum eine Rolle. Die Abkehr von einer primär auf quantitatives Wachstum programmierten Wirtschaft verlangt also erhebliche Anstrengungen in Richtung auf mehr soziale Gerechtigkeit und mehr soziale Gleichheit.

Statt wachsender Produktmassen sind umweltverträglichere und haltbarere Produkte notwendig, die auch weniger physischem Verschleiß unterliegen.

Die nach wie vor mögliche Steigerung der Arbeitsproduktivität darf künftig nicht mehr oder nur immer weniger durch Steigerung der Warenmassen genutzt werden und muss daher der Verkürzung der Arbeitszeit zugute kommen. Die Arbeit aber, die nach wie vor als Mittel sozialer Anerkennung und individueller Selbstachtung unentbehrlich ist, sollte gerecht - auf alle Bürger - verteilt werden. Eine größere Annäherung der Einkommensniveaus reicht nicht aus, um allen ein befriedigendes Leben zu ermöglichen. Hierzu wird - künftig immer mehr - auch die attraktive Gestaltung der Arbeit notwendig sein. Neben der Aufgabe, die Tarifpolitik im Sinne der Arbeitszeitverkürzung und einer gewissen Annäherung der Lohnniveaus zu gestalten, wird daher - so meine These - für die Gewerkschaften künftig die Mitbestimmung bei der Gestaltung der Arbeit immer wichtiger werden. Es geht nicht nur um »humane Arbeitsplätze«, sondern um solche, die vielseitige individuelle Tätigkeiten und Fähigkeiten entfalten lassen, um die schrittweise Zurückdrängung von monotoner, abstumpfender, unattraktiver Arbeit.

Endlich wird es auch darauf ankommen, dass die »Freizeit« aus ihrer instrumentellen Bezogenheit auf die Arbeit herausgelöst, zum Freiraum vielseitiger Tätigkeit sich entwickelt. Erst dann könnte man davon reden, dass wir in einer Kulturgesellschaft mit sozialer Gerechtigkeit leben, wenn allen der Weg zu künstlerischer, sportlicher, wissenschaftlicher, handwerklicher usw. Eigentätigkeit eröffnet worden ist, und Arbeit aufgehört hat, leidvolle und mühevolle Not zu sein.

Es sieht so aus, als hätte ich hier eine Utopie mit dem Prinzip Verantwortung verbinden wollen. So ist es. Ich bin überzeugt, dass die notwendige Kurskorrektur, die uns vom Wachstumszwang der Konsumgesellschaft freimacht, ohne dass die freiheitlichen Institutionen einer »Ökodiktatur« weichen müssten, in der Tat ein umfassendes Konzept verlangt, das die Anpassung der Produktionstechnik an die Knappheit der Ressourcen und an die begrenzte Belastbarkeit von Luft, Wasser und Boden mit Umgestaltung der Einkommens- und Arbeitsverhältnisse sowie einer aktiven Nutzungsmöglichkeit der Freizeit zu kombinieren erlaubt.

Mit weniger - so bin ich überzeugt - können wir eine humane Zukunft nicht erreichen. //

aus Iring Fetscher: Ende der Ausbeutung - zum Verhältnis von Mensch und Natur, in IG Metall (Hg.): Umweltschutz zwischen Reparatur und realer Utopie. Wege aus der Bedrohung, Materialband Nr.1 der Diskussionsforen »Die andere Zukunft: Solidarität und Freiheit«, Köln 1988.

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