Ein paar Fragen an uns selbst

Die Überlebensfrage erscheint inzwischen als Umsetzungsfrage. Die Entscheidungen zur Erreichung von Klimazielen fallen jetzt. Vorläufige Überlegungen zum Nexus zwischen Physik der Krise, klimapolitischem Zeitfaktor und linken Grundwerten.

1. Ein neues biophysikalisches Paradigma für emanzipative Politik?

Je mehr wissenschaftlich über die biophysikalische Existenzkrise bekannt ist, desto weniger Zeit verbleibt für ein grundlegendes Umsteuern. Dies gilt vom humanistischen wie vom planetaren Standpunkt: Das Ziel, global ein (auch) für die Existenz der Menschheit, wie wir sie kennen, verträgliches stabiles Klimaniveau zu bewahren, ist nicht absolut, sondern geht von bestimmten Voraussetzungen aus. Etwa in humanistischer Perspektive von Grundwerten, deren Geltung ohne dieses Klimaniveau nicht durchgesetzt werden könnte, oder in planetarer Perspektive von der Idee des Erhalts von Lebensvoraussetzungen generell.

Claus Leggewie und andere haben diese beiden Ethiken miteinander verbunden: »Verschränken wir nun die (planetozentrische) Habitabilität mit der (anthropozentrischen) Hospitalität, so sind der ›Gast‹ Mensch und der ›Gastgeber‹ Erde kein Gegenüber mehr, sondern durch die Bewohnbarkeitsfrage symmetrisch verbunden.«

Diese Bewohnbarkeit ist infrage gestellt, der Klimawandel ist dabei nur eine Bedrohung, die Überschreitung anderer planetarer Grenzen geht ebenso voran wie die Folgen in immer größeren Gebieten katastrophale Ausmaße annehmen. Dies anzuerkennen hat nichts mit Weltuntergangsdenken zu tun, sondern mit realistischer Bewertung dessen, wie sehr die biophysikalischen Bedingungen bereits aus dem Bereich verschoben worden sind, in dem die Menschheit ihren bisherigen Entwicklungsweg gehen konnte. In diesem Sinne ist diese Krise fraglos existenziell.

Dass manche frühere, noch katastrophalere Klima-Szenarien inzwischen als weniger wahrscheinlich angesehen werden, ist auch politischem Fortschritt zu verdanken und bezeugt einerseits vorhandene Handlungsspielräume. Das dennoch fortdauernde Zurückbleiben klimapolitischer Fortschritte hinter den sich immer konkreter ergebenden Anforderungen belegt andererseits, wie konfliktreich und schwierig dieses Umsteuern in der Praxis ist.

Die Annahme, es sei irgendwie »pragmatisch« oder »realistisch«, nicht zu einer radikalen Klimapolitik zu drängen, ist dabei so unvernünftig wie es eben Tatsache ist, dass die gesellschaftlichen Konflikte (bisher) umso größer werden, je stärker der Regler »Klimapolitik« in die Richtung der Interessen der Gesellschaft gedreht wird, in dieser aber zu Ablehnung, Verunsicherung usw. führt.

Aus der Umweltfrage ist »eine Umsetzungsfrage« geworden, hieß es mit Blick auf die jüngsten Auseinandersetzungen zwischen den die Bundesregierung tragenden Parteien; die Klimaziele seien mit dem letzten Koalitionsausschuss »in der Gegenwart angekommen«. Selbst wer aus guten Gründen schon früher auf Umsetzung drängte und die bisher eingetretenen Verzögerungen kritisierte, wird erkennen, was sich verändert hat, weil wesentliche Bestimmungsfaktoren unseres Wissens zu einem bestimmten Punkt gereift sind:

  • erstens die verfügbaren wissenschaftlichen Erkenntnisse über den bereits erreichten Stand der biophysikalischen Existenzkrise und über die von Variablen abhängigen möglichen künftigen Verlaufspfade;
  • zweitens die daraus resultierenden, die Politik bindenden Zeitfaktoren, die sehr enge Rahmen für alle gesellschaftlichen, ökonomischen usw. Zielvorstellungen setzen und gegebenenfalls eine zeitliche Korrektur bestehender Pläne, Konzepte usw. erforderlich machen;
  • drittens die von den wissenschaftlichen Diskussionen über die jeweilige planetare, ökologische usw. Tragfähigkeit sowie die im Sinne der Zeitfaktoren jeweils bestehenden Realisierungschancen dieser politischen Einzelmaßnahmen bzw. übergreifenden Veränderungskorridore;
  • viertens die Komplexität und Unübersichtlichkeit ökologischer, biophysikalischer systemischer Prozesse (siehe die Annahmen zu »Kipppunkten«) in denen eindeutige Ursache-Wirkungs-Ketten, Kausalitäten, nicht mehr hinreichend auszumachen sind; eine Unübersichtlichkeit, die sich in der sozioökonomischen Polykrise (Finanzmärkte, globale Wirtschaftsbeziehungen, »Natur«-Katastrophen, Pandemie, Flucht- und Migrationsbewegungen, Rückkehr des Krieges nach Europa, transformative Brüche) wiederholt und die Modi der Politik polarisiert: entschiedenere, schnellere Maßnahmen, um den Pariser Klimazielen möglichst nahe zu kommen auf der einen Seite, auf der anderen Seite die notwendige Erwartung, dass politische Entscheidungen in ihren Wirkungen und Nebenwirkungen geprüft und abgewogen worden sind, was wiederum von interessenpolitisch geleiteten Bremsern ausgenutzt wird.

Angesichts der biophysikalischen Existenzkrise sind international, national und lokal verschiedene »Klimaziele« postuliert worden, inzwischen mehr und mehr als bindende Gesetze. Diese geben vor allem eine weitgehende Minderung der klimawirksamen Emissionen vor; weitere planetare Grenzen, die von der (vor allem im globalen Norden) herrschenden Produktions- und Lebensweise überschritten werden, kommen hinzu und werden teils in ähnlichen Zielvorgaben konkretisiert.

Ob diese erreicht werden können, wird jetzt entschieden, es entscheidet sich also auch jetzt, unter welchen Bedingungen sich Zukunft entwickeln kann.

Im Unterschied zu vielen anderen politischen Zielvorgaben besteht bei den klimapolitischen absolut betrachtet kein Spielraum; die Physik lässt nicht mit sich diskutieren. Hinweise auf den klimapolitischen Stand in anderen Staaten ändern daran nichts, da die Erreichung der Klimavorgaben insgesamt in jedem Fall deren Erreichung in einzelnen Staaten erfordert. Weder logisch und schon gar nicht - aufgrund der »Klimaschuld« des globalen Nordens - historisch ließe sich ein Abbremsen oder Reduzieren der Zielerreichung hierzulande begründen.

Dass eine Maßnahme, die für die Erreichung der klimapolitischen Ziele unabdingbar ist, zu materiellen Belastungen führen kann, lässt sich ebenfalls nicht zu einem Argument gegen die Zielerreichung machen, auch dann nicht, wenn befürchtet werden muss, dass auf Ungleichheit in der Klimapolitik usw. zurückgehende Konflikte zu Gefährdungen der Demokratie werden. Weder Gleichheit noch Kooperation noch Demokratie werden künftig erweitert oder überhaupt zur Geltung gebracht werden können, wenn die Klimaziele nicht erreicht werden.

Und auch der Fakt, dass aufgrund der Komplexität ökologischer, biophysikalischer systemischer Prozesse nicht exakt vorausgesagt werden kann, wie sich die meist als Klimawandel bezeichneten Veränderungen entwickeln, kann nicht zum Argument gegen die strenge Beachtung des Zeitfaktors und seine bestimmende Wirkung gemacht werden. Solange die zentrale Hypothese, derzufolge »der heutige Industrialisierungsprozess, wenn er sich quasi naturwüchsig fortsetzt, in absehbarer Zeit zu katastrophalen Konsequenzen führen wird«, nicht »widerlegt ist, wird es heuristisch notwendig sein, jeder Überlegung, die sich auf die Zukunft bezieht, ihre Aussagen zugrundezulegen. Nur wenn man sich so verhält, ›als ob‹ die ökologische Hypothese zuträfe, kann man sie auf ihre gesellschaftliche Dimension hin überprüfen«.

2. Was ist die »Soziale Frage« von links heute und morgen?

Die Klimafrage, im engeren Sinne die Frage der CO2-Emissionen, erscheint als eine Art strategischer Hebel zur Bewältigung der biophysikalischen Existenzkrise. Anderes, wie die bedrohlich abnehmende Biodiversität oder die Übernutzung planetarer Ressourcen, tritt hinter die Klima-Katastrophe zurück. Wie sinnvoll ist es, »die soziale Frage des 21. Jahrhunderts« im Plural zu denken, als Ineinander-Verwobenheit mehrerer sozialer Fragen, die sich sowohl gleichzeitig stellen und also auch nicht mehr externalisieren lassen?

a)  Die traditionelle (alte, aber nicht überholte) »soziale Frage« zielte auf die Verteilung der Ergebnisse gesellschaftlicher Produktivität zwischen Arbeit und Kapital, innerhalb der Arbeit und zwischen Arbeit und Nichtarbeit, wobei sie zwischen verschiedenen (materiellen) Knappheiten changierte (Wohnung, Einkommen, Gesundheit, Bildung).

b) Die soziale Frage, die mit der Klimapolitik gestellt wird, unterscheidet sich davon in doppelter Hinsicht: Es geht zunächst um die unterschiedliche Betroffenheit, um Belastungen von den Rückwirkungen des Anthropozäns, der menschengemachten Natur und ihrer Katastrophen, unterschiedlich nach Einkommen und Wohnort. Diese Betroffenheit ist per se international, global, weil planetar. Ausbleibender Regen in Ost- oder Westafrika oder Spanien und anschließende Blitzdürren führen nicht nur zu Hungerkatastrophen, sondern auch zu Ernteausfällen, die wiederum hiesige Lebensmittelpreise steigen lassen, mit denen wiederum einkommensarme Haushalte besonders zu kämpfen haben. Wasser, das für die Agrarproduktion verbraucht wurde, wurde andernorts den Wasservorräten entnommen. Die Zerstörung natürlicher Lebensgrundlagen treibt Migrationsbewegungen usw. usf. Vor der Natur sind nicht alle gleich. Wenn Klimapolitik als strategischer Hebel in der biophysikalischen Existenzkrise angesetzt wird, dann wird die soziale Frage zur »klimasozialen Frage« der Belastungen, aber auch der Möglichkeiten, aktiver Teil der klimasozialen Transformation zu werden.

c) Die Krise des industrie-kapitalistischen, fossilistischen Naturverhältnisses beschränkt sich aber nicht auf die Rückwirkungen der fossilen Emissionen. Wenn von sozial-ökologischer Transformation die Rede ist, dann geht es um die natürlichen, planetaren Grenzen des Ressourcenverbrauchs – zudem aus einer universellen, globalen Perspektive, die dem »Globalen Süden« das gleiche Recht auf Entwicklung, Wohlstand usw. unterstellt. Die soziale Frage geht hier dann aufs Ganze: auf die Produktions- und Lebensweise. Sie fragt nach dem, was für ein erfülltes Leben für alle notwendig, angemessen und genug ist, was »wir« uns dafür leisten müssen und nicht mehr leisten können. Die Frage ist dann zum Beispiel nicht mehr, ob Autos mit Elektromotor oder mit eFuels im Tank betrieben werden, sondern ob und warum es noch Autos geben kann und soll. Privatjets wären zu verbannen, weil eine Welt, in der jede darüber verfügt, nicht vorstellbar und nicht erstrebenswert ist.

Es hilft nicht, die unterschiedlichen Fragen gegeneinander auszuspielen, vielmehr käme es darauf an, ihre Zusammenhänge zu verdeutlichen, das heißt im Alltag präsent zu machen. Ein Instrument ist der Preis, etwa das CO2-Zertifikat, mit dem die unbezahlten Produktionskosten, die auf die Allgemeinheit abgewälzt werden, bepreist werden sollen. Eine Reihe von mit hoher Schadstoffbelastung verbundenen Produktionen wurden auf diese Weise erfolgreich internalisiert, was die Luft und die Flüsse hierzulande sauberer gemacht hat – weitere in diesem Sinne »ehrliche Preise« würden solche Zusammenhänge sichtbar machen.

Kritik daran, Klimaschutz mithilfe von preislicher Steuerung zu erreichen, ist mit der Einsicht konfrontiert, dass diese Preismechanismen inzwischen zumindest in Europa fest etabliert sind und weiterentwickelt werden. Dass es weiterer, ordnungspolitischer, transformatorischer Maßnahmen bedarf, ist richtig, aktuell erscheint eine Konzentration auf die diskutierten aber in ihrer Umsetzung ausgebremsten sozialen Rückverteilungskomponenten sinnvoller - also etwa auf die verwaltungs- und technischen Voraussetzungen für das, was Klimabonus oder Klimageld genannt wird.

3. Umsetzungsfragen einer klimasozialen Transformation

Vertrauen auf die politischen Akteure und ihre Entscheidungen wie auch in demokratische Prozesse verlangt beides: dass die jeweilige Maßnahme einer Problemlösung angemessen ist und dass die Akteure wissen was sie tun, also die (Neben-)Wirkungen bedacht haben.

Sollen die Klimaziele und formulierte Zwischenetappen wie 2030, 2035 oder 2045 erreicht werden, müssen jetzt die entsprechenden Entscheidungen getroffen und durchgesetzt werden. Dieses »Jetzt« ist ein sehr enges, auf vielleicht einen Zeitraum von fünf, zehn Jahren begrenztes Jetzt, da die Wirkung von Entscheidungen etwa über Dekarbonisierung in der Regel nicht unmittelbar eintritt (von einer verändernden Wirkung auf biophyisikalische Systeme aufgrund von Trägheit usw. ganz zu schweigen). Weshalb also vorausschauende Umsetzung wichtig wird: die Beachtung von Erneuerungszyklen der jeweiligen Bereiche des gesellschaftlichen Kapitalstocks und der für die gesellschaftliche Aushandlung und Umsetzung erforderlichen Zeit. Was 2030 wirken soll, verlangt jetzt Entscheidungen darüber.

Das ist zunächst keine Aussage über die Reichweite und Tiefe von Veränderungszielen, die Beachtung des Zeitfaktors aber lässt eine Reihe von Fragen auftauchen, deren Beantwortung für eine linke Ausgestaltung, Realisierung und Kommunikation von Klimapolitik notwendig erscheint.

Dabei sind wir teils mit gegenläufigen Richtungen konfrontiert: Zeitfragen spielen auch auf anderer Ebene eine wachsende Rolle - zum Beispiel bei der Analyse bestehender Verhältnisse und in Entwürfen alternativer Modelle, siehe etwa die Kritik der gesellschaftlichen Beschleunigung (zum Beispiel bei Hartmut Rosa), neu gedachte gesellschaftliche Zeitverhältnisse und -kulturen (zum Beispiel bei Teresa Bücker) oder zeitpolitische Ideen der Transformation in der Arbeitswelt (zum Beispiel bei Hans-Jürgen Urban). Hierbei geht es in der Regel um ein - vereinfacht gesprochen - »langsamer werden«, zur Erreichung der klimapolitischen Zielvorgaben müssen Gesellschaften zunächst aber »schneller werden«.

Fragen, die vom Zeitfaktor der biophysikalischen Existenzkrise hervorgebracht werden, liegen auf unterschiedlichen Ebenen, einige haben mehr mit Operationalisierung von Zielformulierungen zu tun, also praktischer Umsetzung, andere mit grundlegenden Aspekten wie dem Verhältnis von Transformationsidee und Zeitfaktor, die nächsten mit objektiv einschränkenden Rahmenbedingungen etwa auf der Finanzierungsseite, die zu ändern womöglich länger dauert, was zu Priorisierungen in der Liste von (auch linken) Zielvorhaben zwingen könnte.

Ein Beispiel: Die Zahl der gesellschaftlichen Herausforderungen, die nur mit enormen öffentlichen Investitionen zu bewältigen sind, nimmt zu. Das mag bestehende Kritik an vorrangig marktbasierten »Lösungen« für öffentliche Probleme bestätigen. Aber es führt, den Zeitfaktor und die realen Bedingungen beachtet, wahrscheinlich zu Zielkonkurrenzen. Die KfW hat 2021 berechnet, dass rund fünf Billionen Euro insgesamt investiert werden müssten, damit die Bundesrepublik im Jahr 2045 klimaneutral werden kann. Über diesen Zeitraum wären das im Schnitt 191 Milliarden Euro pro Jahr, zieht man Investitionen ab, »die ohnehin getätigt werden müssen«, sind es immer noch 72 Milliarden Euro pro Jahr. Und das stellt wahrscheinlich nur einen Bruchteil der für einen Umbau erforderlichen Mittel dar, die eine Gesellschaft planetarer Tragfähigkeit ermöglichen würde.

Diese Investitionen werden weit größer ausfallen und müssten schneller mobilisiert werden, wenn Klimaneutralität bereits 2035 und wenn zugleich noch andere linke Forderungen umgesetzt werden sollen. Ein erheblicher Anteil davon sollte aus linker Perspektive öffentlich investiert werden, es entspricht den Entwicklungszielen, dass dieser Anteil im Umbau sogar noch wächst und entsprechende Strukturveränderungen mit sich bringt.

Aber: Die Abschaffung der Schuldenbremse auf Bundesebene ist derzeit unwahrscheinlich, die Auslagerung von kreditfinanzierten Ressourcen in Nebenhaushalte nicht uferlos möglich. Die Bedingungen der Staatsfinanzierung verändern sich, siehe Zinsentwicklung; steuerpolitische Umverteilung (Vermögen, Übergewinne, Profite usw.) kann den Rahmen von verfügbaren Mitteln verändern, aber auch das nur in Grenzen. Wie eng diese insgesamt unter dem Strich sind, wird auch in der Linken unterschiedlich bewertet.

Hinzu kommt, das linke Veränderungsziele nicht nur mit erheblichem öffentlichem materiellen Investitionsbedarf oder finanziellen Solidarleistungen (national wie international) im Feld der Klimapolitik einhergehen, sondern auch bei sozialer Integration, dem sonstigen Ausbau öffentlicher Infrastruktur inklusive der Personalbedarfe usw.

Letzteres verweist auf eine weitere mögliche Zielkonkurrenz: bei den verfügbaren Arbeitskräften. Während für die Erreichung der klimapolitischen Zielvorgaben große Ressourcen an zusätzlicher Arbeitskraft nötig sind, deuten verfügbare Daten auf einen zumindest in kurzer Frist wachsenden Arbeitskräftemangel hierzulande hin. Dieser gefährdet schon jetzt die Bereitstellung von öffentlichen Status-quo-Leistungen zum Beispiel im Bildungs- und Gesundheitsbereich, aber auch bei klimatechnischen Handwerksleistungen, selbst der öffentlichen Sicherheit, des Verkehrs und so fort.

Hinter den verfügbaren Zahlen über fehlende Kraftfahrerinnen, Pflegekräfte, Verwaltungsmitarbeiter, Heizungsmonteurinnen usw. steckt nicht bloß ein »Arbeitsmarktproblem«, das auf einer bestimmten Ebene sogar noch »vorteilhaft« ist, weil es die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zurzeit durch Verknappung zugunsten der Verhandlungsmacht der Arbeit verbessert.

Hinter diesen Zahlen steckt, wie öffentliche Daseinsvorsorge, Dienstleistungen, Sicherheit usw. funktioniert, wie das erfahren wird, sie prägt dadurch auch politische Veränderungsbereitschaft. Die Probleme lassen sich wahrscheinlich nicht in kurzer Frist und ausreichend nur durch Maßnahmen wie Ausbau der Kinderbetreuung, Weiterbildung von Erwerbslosen usw. bewältigen, selbst die Möglichkeiten, dem mit Einwanderung zu begegnen sind begrenzt.

Hinzu kommt, dass gesellschaftliche Entwicklungsziele der Linken neben dem Feld der Klimapolitik zum Beispiel eine Reduzierung der Lohnarbeit anstreben, auch um alternativen Vorstellungen von Wohlstand, Verteilung von Care-Arbeit oder demokratischer Teilhabe zu ermöglichen. Vorliegende linke Pläne können zwar Möglichkeiten andeuten, wie durch linke Veränderung gleichsam die Arbeitskraftfrage »mitgelöst« wird, wenn etwa im Zuge der Dekarbonisierung des gesellschaftlichen Kapitalstocks Beschäftigte von fossilen in dekarbonisierte Branchen wechseln. Aber wie realistisch ist das binnen 22 Jahren, oder, eine linke Zielmarke berücksichtig, in zwölf?

Eine weitere mögliche Zielkonkurrenz linker Politik deutet sich auf der stofflichen Ebene an. Der überwiegende Teil progressiver Forderungen hat mit Ausbau, Erweiterung, zusätzlichen Investitionen zu tun - mit einem »Mehr«. So sollen linke Ideen einer Gesellschaft  erreicht werden, in der Menschen frei, gleich, kooperativ, sorgend miteinander neue »Beziehungsweisen« eingehen können, wofür sie öffentliche Ermöglichung brauchen.

Doch auch das ist mit stofflichen Grenzen konfrontiert; anders gesagt: Die Erreichung linker gesellschaftlicher Zielvorstellungen wird die planetaren Grenzen genauso beachten müssen, sonst können es streng genommen keine linken Ziele mehr sein. Hierbei geht es um Rohstoffe, Flächen, natürliche Senken. Man kann zwar sagen, für das neue Gute verzichten wir ja auf das schlechte Alte, also das in SUVs und Privatflugzeugen im gesellschaftlichen Sinne vergeudete Material wird, durch kreislaufwirtschaftliche Innovation ergänzt, für andere Zwecke verfügbar.

Aber auch hier stellt sich womöglich die Frage, was zwingend und vorrangig angegangen werden sollte, geht man davon aus, dass binnen zwei Jahrzehnten (oder weniger) ein auch im globalen Sinne gerechter neuer Zustand der Verfügbarkeit stofflicher Voraussetzungen linker Gestaltungsziele womöglich noch nicht erreicht werden kann. Wohl selbst dann nicht, wenn die verteilungspolitische Forderung nach Einschränkung des übermäßigen Verbrauchs Hochvermögender erfüllt, und die Bereitschaft, Elemente der Suffizienz nicht als Verzicht, sondern als Gewinn anzunehmen, in der Bevölkerung urplötzlich ansteigt. Passt die Welt, die Linke anstreben, in planetare Grenzen?

4. Traditionelle soziale und klimasoziale Frage

Hiermit hängt eine weitere mögliche Frage zusammen. Ein wesentliches Ziel linker Politik hierzulande besteht (bisher) darin, ökonomische Ansprüche zu verteidigen und auszuweiten, die einem System privater Aneignung gesellschaftlichen produzierten Reichtums abgerungen werden müssen. Ein zentraler Modus dafür ist Verteilungspolitik, ob nun primär (Lohn) oder sekundär (Sozialstaat).

Auch die Ressourcen für die soziale und kulturelle Infrastruktur sowie für deren angestrebten Ausbau basieren auf dem gesellschaftlichen Mehrprodukt - dessen Produktion aber unter anderem globale Ungleichheit hervorruft, ohne den Zugriff auf Ressourcen des Globalen Südens bisher nicht möglich ist und vorerst weiter auf der Einlagerung von Emissionen in die globale Atmosphäre basiert.

Es ist richtig, den schädlichen Überkonsum von Hochvermögenden drastisch einzuschränken; ebenso richtig wären ordnungspolitische Maßnahmen zur Eindämmung klimaschädlicher Produktion. Ein Erfolg solcher Forderungen ließe aber die Tatsache nicht einfach verschwinden, dass zurzeit auch in der Bundesrepublik weniger als 1 Prozent der Bevölkerung einen 1,5-Grad-kompatiblen CO2 -Fußabdruck hat.

Dass ein solcher nur durch Politiken der Ermöglichung, also entsprechende öffentliche Infrastruktur, verändert werden kann, weil allein auf individueller Verhaltensänderung eine erfolgreiche Klimapolitik nicht beruhen kann und sollte, ist so richtig, wie solche Politiken der Ermöglichung - also etwa der Ausbau des ÖPNV - auf absehbare Zeit weiterhin klimabilanziell negativ zu Buche schlagen: als Emissionen, als Verbrauch von Ressourcen usw. Diese Folgen wirken außerdem zu beträchtlichen Teilen in anderen Teilen der Welt.

Was also bedeutet es vor dem Hintergrund der von linken angestrebten universellen Geltung von Gleichheit, Freiheit und Kooperation, dass (mindestens vorübergehend) die Verwirklichung linker Veränderungsziele in einem globalen Maßstab Ungleichheit und die biophysikalische Existenzkrise verstärken kann?

Hieraus könnte sich eine weitere Frage ergeben, die allerdings vor allem mit dem Denkraster zu tun hat, das linke Veränderungsziele erst hervorbringt: Inwieweit hilft uns das bisherige linke Klassenverständnis bei der Erklärung der und der Suche nach Auswegen aus der biophysikalischen Existenzkrise? So richtig es ist und bleibt, die Mensch-Mensch-Ausbeutung klassentheoretisch zu erfassen, welche zu den maßgeblichen strukturellen Ursachen der Krise gehört, so wenig ist die Überlebensfrage, also Mensch-Natur-Ausbeutung, ausschließlich eine Klassenfrage im alten Sinne.

Erste Vorschläge zur Ausweitung des Sichtfeldes in Richtung einer »ökologischen Klasse« sind gemacht. In der Diskussion über die Bestimmung von Zielgruppen und die Perspektiven für eine bessere Zukunft, für Bündnisorientierung und politische Kooperation wäre demnach neben der Stellung zu den Produktionsmitteln auch von anderen Aspekten auszugehen: zunächst von der Frage nach der territorialen Position im »planetarischen Raum« (Betroffenheit von der biophysikalischen Existenzkrise), daran anschließend von der nach den verfügbaren Mitteln in der Überlebensgesellschaft (Ressourcen der Resilienz, Anpassung, sozialen Absicherung von Reduktion), in einem dritten Schritt dann von der jeweiligen Stellung in der gesellschaftlichen Arbeitsteilung und von der Position in der stofflichen Seite des gesellschaftlichen Produktionsprozesses (fossiler oder postfossiler Sektor).

5. Was »links« zukünftig unterscheiden kann

Die genannten Punkte sind nur ein Ausschnitt aus dem Kaleidoskop möglicher Fragen, die wir uns stellen. Mag sein, dass längst vorliegende Antworten übersehen wurden; entscheidend für unser Motiv ist der vor allem in den kommenden zwei Jahrzehnten bestimmende Nexus zwischen linker Ethik, Physik der Krise und Zeitfaktor.

Alle formulierten Ziele und Forderungen sollten sich in einer mehrfachen Begutachtungsschleife darin bewähren, ob sie erstens geeignet sind, den Werten Gleichheit, Freiheit sowie Kooperation und Fürsorge zusätzliche und universelle, globale Geltung zu verschaffen. Zweitens wären sie danach zu prüfen, ob ihre Umsetzung ohne fortgesetzte Externalisierung von Klimaschäden, Naturverbrauch und Ressourcenraubbau tatsächlich zur Erreichung der selbst gesteckten und international vereinbarten Klimaziele beitragen.

Dies könnte auch stärker in den Diskussionen über internationale Fragen Berücksichtigung finden, wie es unter anderem hier schon vorgeschlagen wird. Welchen Stellenwert bei der Beurteilung von internationalen Akteuren haben Kriterien wie die Bereitschaft zur Kooperation in den globalen Menschheitsfragen und die Akzeptanz bzw. Förderung dazu nötiger aktiver, handlungsfähiger Zivilgesellschaften sowie die jeweilige Politik dieser Akteure zur Verringerung von Ungleichheit im globalen wie im nationalen Rahmen unter Berücksichtigung von notwendigen ökologischen Imperativen? Brandts Satz vom Frieden, der nicht alles, ohne den aber alles nichts sei, darf nicht übersehen machen, dass Frieden nicht bloß einfach die Kehrseite von Krieg ist; sondern mehr verlangt: »nach gerechten Verhältnissen, in denen Menschen frei, selbstbestimmt und sicher leben können«. Auch dies setzt zwingend die Erreichung klimapolitischer Zielvorgaben voraus.

Ein Teil der hier vorgetragenen Überlegungen verdanken wir schon länger geführten Diskussionen mit anderen. Wir können nicht weiter mit Bestimmtheit sagen und unsere Pläne darauf stützen, dass »der Kapitalismus nicht das Ende der Geschichte« ist. Denn wir sind mit diesem Kapitalismus in eine Situation gekommen, in der die Möglichkeit eines »Endes der Geschichte« zu Zeiten des Kapitalismus realistischer geworden ist, und damit auch das Ende jeder Geschichte, die durch kollektive Anstrengungen im Sinne der oben genannten linken Grundwerte veränderbar und gestaltbar ist.

Was für Schlussfolgerungen wären daraus zu ziehen, dass die existenznotwendige Dekarbonisierung, die Rückgabe von riesigen Flächen zur Erhaltung von Biodiversität und vieles mehr nur innerhalb der kapitalistischen Wirtschaftsweise in dem notwendigen Zeitrahmen möglich sein wird, dabei zugleich wissend, dass mit guten Argumenten bezweifelt werden kann, ob es mit ihr gelingt?

Linke Politik wird in Zeiten der biophysikalischen Existenzkrise neue Antworten brauchen. Das heißt nicht, dass alles bisher Gedachte umgeworfen gehört. Aber die Menschheit muss unter einem sehr hohem Zeitdruck sowohl ihre Existenz unter katastrophaler werdenden Bedingungen schützen, was bestimmte Schwerpunkte ins Zentrum linker Politik rückt: Resilienz, Anpassung, Reduktion.

Es geht dabei um nichts weniger als den Erhalt jener Lebensgrundlagen, die für alternative Entwicklungspfade eine nicht ersetzbare Voraussetzung bilden. Dies setzt wiederum das Überleben von zivilisatorischen und demokratischen Errungenschaften voraus, die Voraussetzung für die gemeinsame, kooperative Bewältigung der Herausforderung sind. Maßstab für eine linke Politik (in) der Überlebensgesellschaft sind Gleichheit, Freiheit sowie Kooperation und Fürsorge. Es geht darum, jetzt innerhalb sehr kurzer Zeit auch die Möglichkeit ihrer zukünftigen Weiterentwicklung zu verteidigen. (haka, tos, Mai 2023)

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