»Drei inhaltliche Bestandteile« (2019)
Geschichte wiederhole sich nicht, sagt Klaus Dörre - und geht auf die Suche nach einem erneuerten, einem »Neosozialismus«, mit dem sich »die ökonomisch-ökologische Zangenkrise des Kapitalismus« überwinden lasse. Aus dem Archiv linker Debatte.
// Um zu präzisieren, worum es inhaltlich geht, seien nach den Quellen exemplarisch noch einmal drei inhaltliche Bestandteile eines Neosozialismus benannt.
Nachhaltige Regulationsweise: Der Übergang zu einer dekarbonisierten, ressourcenschonenden Wirtschaft erfordert langfristige Planung. Ein Grundproblem aller bislang bekannten Spielarten des Kapitalismus ist, dass die dominanten Akteure langfristige Planungen nur in gesellschaftlichen Teilbereichen realisieren - auf Kosten großer Mehrheiten und zulasten des großen Ganzen. Das ist der Grund, weshalb freiwillige Klimaziele gegenwärtig vor allem dazu da sind, von kurzfristig kalkulierenden Unternehmen und Akteuren unterlaufen zu werden. Demgegenüber gilt: »Die Zukunft der Umwelt hängt von langfristigen Entscheidungen ab. Diese führen erst nach längerer Zeit zu Ergebnissen, die nur global zu bewerten sind. Es bedarf einer Macht, die in der Lage ist, präventiv zu handeln, die Forschung zu planen, strategische Entscheidungen für Investitionen und Ansiedlungen zu treffen und die internationale Arbeitsteilung danach auszurichten«. Dazu wird im ersten Schritt eine gesellschaftliche Regulationsweise benötigt, welche die ökologische Zerstörung und das dadurch bedingt destruktive Wachstum der vorherrschenden Wirtschaftsweise öffentlich sichtbar und transparent macht. Die Abkehr von den Indikatoren des BIP-Wachstums und ihre Ersetzung durch neue Indikatoren, die auch Leistungen unbezahlter Tätigkeiten einbeziehen, wäre hier ein erstes wichtiges Einstiegsprojekt, für das die notwendigen Vorarbeiten längst gemacht sind.
Umfassende Wirtschaftsdemokratie: Nachhaltig zu regulieren bedeutet, darauf haben bereits die Prager Reformer verwiesen, die Abkehr von Vorstellungen zentralistischer Planung, die vorsieht, ökonomische Akteure direkt zu steuern. Ziel ist stattdessen eine gemischte Ökonomie mit ausgebauter Wirtschaftsdemokratie. Eine solche Konzeption hat Ota Sik, einer der intellektuellen Köpfe des Prager Frühlings, im Exil entwickelt. Sik benennt drei Säulen einer modernen Wirtschaftsdemokratie: erstens neue Eigentums- und Partizipationsformen in Wirtschaft und Arbeitswelt, zweitens eine makroökonomische Verteilungsplanung, die, anders als im Staatssozialismus, auf detaillierte Produktionsvorgaben verzichtet, aber doch Einfluss auf die Wirtschaftspolitik und die Unternehmensstrategien nimmt, sowie drittens eine optimale Förderung von marktwirtschaftlichem Wettbewerb besonders im klein- und mittelbetrieblichen Sektor, einschließlich wirkungsvoller Maßnahmen gegen Kartellbildungen und die Zentralisierung wirtschaftlicher Macht. Im Kontext einer generellen Aufwertung demokratischer Verfahren spielen direkte Partizipation und Selbstbestimmung der Produzent(inn)en konzeptionell eine wichtige Rolle. Sik plädierte dafür, große Unternehmen auf dem Weg der Kapitalneutralisierung generell in Mitarbeiter(innen)gesellschaften umzuwandeln. Innerhalb der Betriebe und Unternehmen sollen transparente, demokratische Entscheidungsstrukturen Partizipationsmöglichkeiten eröffnen. Neben materieller Beteiligung der Beschäftigten an den Geschäftsergebnissen ist eine selbstbestimmte Arbeitsorganisation wichtige Voraussetzung für die Teilhabe der Belegschaften an betrieblichen Entscheidungsprozessen.
Individuelle und kollektive Partizipationsrechte sollen jedoch auch jenseits der betrieblichen Sphäre geschaffen werden. So skizziert Sik nicht nur die Grundzüge einer makroökonomischen Verteilungsplanung mit demokratisch zusammengesetzten Planungskommissionen. Er geht so weit, eine Konkurrenz von Planvarianten vorzuschlagen, die der Bevölkerung periodisch zur Abstimmung vorgelegt werden. Die jeweils beschlossene Variante setzt Präferenzen bei den öffentlichen Ausgaben. Sie soll für Regierungen, nicht jedoch für einzelne Betriebe oder Unternehmen verbindlich sein. An solche Überlegungen lässt sich anknüpfen. Auch wenn sie sich nicht unmittelbar auf die Gegenwart übertragen lassen, deuten sie an, wie eine Neuverteilung von Entscheidungsmacht aussehen könnte, die weit über bestehende Mitbestimmungsrechte hinausgeht und sich auf das Was, Wie und Wozu der Produktion erstreckt. Die Erfahrungen mit der betrieblichen Mitbestimmung zeigen allerdings, dass es nicht ausreichen wird, Entscheidungsmacht im Inneren der Unternehmen zu demokratisieren. Dergleichen schließt korporative Blockbildungen oder, wie die jugoslawische Selbstverwaltung belegt hat, Kurzfriststreiterei zugunsten von sozialen und Lohninteressen keineswegs aus. Deshalb wird es darum gehen müssen, Institutionen und Verfahren zu schaffen, um breitere gesellschaftliche Interessen an ökonomischen Entscheidungsprozessen zu beteiligen. Sinnvoll wäre die Einrichtung von Wirtschafts- und Sozialräten, die zunächst ein annäherndes Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Kräften wiederherzustellen hätten. An ihnen könnten, wie der Ökonom Anthony B. Atkinson vorschlägt, neben Unternehmen, Gewerkschaften und Politik auch Umweltverbände, Frauenorganisationen und wichtige NGOs beteiligt werden. Aufgabe dieser Räte wäre es unter anderem, Investitionsentscheidungen de facto zu »vergesellschaften« und faire Einkommen (»livingwages«) zu ermöglichen. Die Überwachung der Einhaltung von Sozialstandards und Klimazielen könnte ebenfalls zu ihren Aufgaben gehören. Ihre Kernaufgabe bestünde jedoch in der Schaffung einer institutionell abgesicherten, öffentlich garantierten Infrastruktur, die basale Güter für alle frei oder zu geringen Kosten verfügbar macht. Eine solche Zielsetzung entspricht weitgehend dem, was italienische Eurokommunist(inn)en als »revolutionäre Austerität« bezeichnet haben. Es geht um eine neue, solidarische Lebensform, in welcher die großzügige Bereitstellung öffentlicher Güter dafür sorgt, dass auch Gesellschaftsmitglieder, die über relativ geringe Einkommen verfügen, gut leben können.
Grundrechte und transformative Demokratie: Nachhaltige Regulationsweise und umfassende Wirtschaftsdemokratie benötigen, um nachhaltig zu wirken, einen von der Verfassung abgesicherten Übergang zu einer transformativen Demokratie. Demokratietheoretisch muss es darum gehen, die Selbstbeschränkung auf verständigungsorientierte, deliberative Verfahren zugunsten einer substanzielleren Vorstellung der Selbstregierung des demokratischen Souveräns zu ersetzen. Dafür reichen präsentische Varianten von Demokratie, die mit antistaatlicher Attitüde für Selbstorganisation und kommunitäre Vergemeinschaftung plädieren, ebenso wenig aus wie Varianten einer aleatorischen Demokratie, in welcher, zusätzlich zu etablierten Verfahren, nach dem Zufallsprinzip bestimmte Personen zukunftsträchtige Entscheidungen treffen sollen. Gemeinsam ist diesen höchst disparaten demokratietheoretischen Ideen, dass sie die widersprüchliche Vergesellschaftung von Politik übergehen.
Um demokratisch bearbeitet werden zu können, müssen gesellschaftliche Antagonismen aus ihrer Latenz herausgeholt und gesellschaftlich wie politisch sichtbar gemacht werden. Dergleichen zu leisten hatte Wolfgang Abendroth mit seiner Konzeption antagonistischer Vergesellschaftung einst beansprucht. Im integralen Staat eines halbwegs rationalen, weil wohlfahrtsstaatlichen Kapitalismus fungiert das Recht als Regulationsform, die, mittelbar abhängig von gesellschaftlichen Kräfteverhältnissen, in unterschiedlichem Ausmaß auch Interessen beherrschter Klassen berücksichtigt. Der Kompromisscharakter des Rechts ermöglicht es, wie Wolfgang Abendroth am Beispiel des westdeutschen Grundgesetzes gezeigt hat, eine transformative Demokratie zu denken. Die basalen Rechtsnormen der Verfassung sind demnach für antikapitalistisch-sozialistische Transformationsstrategien prinzipiell offen. Den Antagonisten, der die Eliten herauszufordern imstande ist, können Vorstellungen einer transformativen Demokratie - hier stimme ich mit Axel Honneth und vielen anderen überein - indes nicht mehr mit Arbeiterklassen und organisierten Arbeiterbewegungen gleichsetzen. Vielmehr gilt es, das Recht als Regulationsform des sozial-ökologischen Gesellschaftskonflikts neu zu entdecken. Das kann geschehen, indem sozial-ökologische Nachhaltigkeitsziele Verfassungsrang erhalten. Luft, Wasser, elementare Bildung, Mobilität und ausreichende Nahrung benötigen rechtliche Garantien, um jederzeit als öffentliche Güter verfügbar zu sein. Das Sozialstaatspostulat könnte mit einem erweiterten Recht auf ein gutes Leben verbunden werden, das eine Bestandssicherung für öffentliche Güter und eine nachhaltige Nutzung endlicher Naturressourcen zwingend einzuschließen hätte. Überlebensinteressen einen Verfassungsrang zu geben hieße auch: Wer gegen diese Interessen und damit gegen die Sozialbindung des Eigentums verstößt, muss mit Enteignung bzw. Sozialisierung rechnen.//
aus Klaus Dörre: Was ist neu am Neosozialismus, in: Klaus Dörre, Christine Schickert (Hg.): Neosozialismus. Solidarität, Demokratie und Ökologie vs. Kapitalismus, München 2019. Mehr dazu hier. Und mehr über Klaus Dörre findet sich auf seiner Webseite.