Die Legitimität von Bedürfnissen
»Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander«: Gabriel Yorans unterhaltsame Warenkunde, die Debatte über ein planetares menschliches Maß und das Aufspüren echter Freiheit im Schein der Laterne.
Gabriel Yoran hat ein sehr schönes Buch geschrieben: über Sinn und Unsinn von Produkten, die Machenschaften von Herstellern, über Konsum, und was dieser mit uns, mit anderen und dem Planeten macht: »Die Verkrempelung der Welt«. Im Grunde wird hier eine Warenkritik vorgelegt, die von den gesellschaftlichen Verhältnissen einer die Lebensbedingungen untergrabenden Produktionsweise weiß, deren Problematisierung aber weder bloß an »das Kapital« adressiert, noch auf »die Konsumentenmoral« reduziert. Und trotzdem läuft es auf eine grundstürzende Frage hinaus: die nach der Legitimität von Bedürfnissen.
Wir haben hier oder da immer mal wieder auf die Notwendigkeit verwiesen, über ein neues »menschliches Maß« zu sprechen, das mit den planetaren Grenzen vereinbar ist. Diskutiert haben das unter anderem Miriam Rehm, Vera Huwe und Katharina Bohnenberger in ihrer Auseinandersetzung mit Zielkonflikten zwischen Verteilungsgerechtigkeit und ökologischer Nachhaltigkeit. Es müsse darum gehen, heißt es in ihrer Studie von 2023, »die Nachfrage auf das Maß anzupassen, das für menschliches Wohlergehen notwendig ist«. Womit neue Fragen im Raum stehen: nicht zuletzt, was als ein »Genug« gilt. Natürlich unter Beachtung von existierenden materiellen Ungleichheiten, die aber komplexer sind, als mancher Ruf nach Einschränkung des Überkonsums von Superreichen hierzulande verspricht.
Während (auch) die neue Bundesregierung in die Sackgasse »Wachstumskurs« steuert und alte Wohlstandsillusionen aufruft, schreckt die öffentliche Debatte vor einer Richtungsalternative zurück: Wenn »mehr von allem, aber gegen die anderen« falsch ist, wie kommt man dann zu einem »Weniger wagen«? Wo Zurücknahme des überbordenden »Haben« gefragt wäre, wie sähe es aus, das neue »Sein«? Das ist natürlich, auch Yoran kommt immer wieder darauf zurück, eine Frage des politischen Willens, das allgemeine Interesse (global sichere Lebensbedingungen) gegen das private Interesse an Profit mit wirksamen Regeln zur Geltung zu bringen, durchzusetzen. Es ist aber ebenso eine Frage nach einer neuen, planetaren Anthropologie, die den Rahmen setzt für andere Verständnisse von Wohlstand, Freiheit, Glück.
»Die Bedürfnisse der Bevölkerungen in reichen Industrienationen müssen neu justiert werden, weil ihre Befriedigung zweifelsohne dazu beiträgt, die Klimakatastrophe zu beschleunigen und die Ungleichheit in der Welt zu vergrößern«, schreibt Gabriel Yoran am Schluss – wissend, dass dies (vielleicht nicht »an dem«, aber) an einem »großen Tabu des Kapitalismus« rüttelt: der Frage nach legitimen Bedürfnissen. Berechtigte Ideale wie die nach einem authentischen Selbst, nach dem der konsumierende Mensch strebt (er schließt hier an den Philosophen Charles Taylor an), sind bedingt »durch geteilte Lebensgrundlagen, und zwar im physischen wie im epistemischen Sinn: Es bedarf des Schutzes der Natur und eines gemeinsamen Verständnisses von der Beschaffenheit der Welt. Wo das Streben nach Authentizität diese Grundlagen beschädigt, vernichtet es die Grundlagen der Möglichkeit der Authentizität selbst.«
Das so geschilderte ethische Problem geht auf in einem übergeordneten normativen Anspruch: dem kategorischen Imperativ. Es kann eben nicht eigene Freiheit sein, was die anderer bedroht – ob nun vertikal betrachtet (Oben-unten), derer woanders (globaler Süden), derer nach uns (intertemporale Freiheit). Dass das meist erfolgreich beschwiegen, verhöhnt und verdrängt wird, kann man jeden Tag in der Zeitung lesen. Umso wichtiger, dass die damit zusammenhängenden Fragen immer wieder auf den Tisch gelegt werden.
Yoran plädiert dafür, »das Schweigen über die Legitimität von Bedürfnissen zu beenden… Da uns exzessiver, durch Konsum definierter Individualismus überhaupt erst an den Punkt gebracht hat, an dem der ganze Planet existenziell gefährdet ist, muss die Diskussion über das gute Leben geführt werden – und zwar demokratisch.«
Zur Anregung wird auf die Debatten über das »konvivialistische Manifest« verwiesen, dessen Aktualisierung 2020 »Thesen für eine Gesellschaft nach dem Neoliberalismus« formulierte. Darin heißt es unter anderem: »Die Hoffnung, alle Bedürfnisse zu befriedigen, kann nur enttäuscht werden, denn das Bedürfnis wird durch das Verlangen stets neu entfacht. Wird das Verlangen nicht befriedigt (durch Zuneigung, Respekt oder Wertschätzung) und zugleich durch Verbote beschränkt, die es daran hindern, in Hybris zu entarten, dann werden die Bedürfnisse unstillbar, ganz unabhängig vom erreichten Wohlstandsniveau.«
Damit ist eine Brücke geschlagen zu früheren Debatten – und zu einem Punkt, der bis Karl Marx zurückgeht: Der hatte als menschliche Gesellschaft eine im Sinn, in der kein Mensch »ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen« ist. Sein revolutionärer Humanismus zielte auf die Aufhebung von Entfremdung: »Alle Emanzipation ist Zurückführung der menschlichen Welt, der Verhältnisse, auf den Menschen selbst.«
Was will er also sein, der Mensch, sollte sich vielleicht doch noch »eine assoziierte Handlungsfähigkeit herausbilden, die von der Interpretation der Existenz, ja Überlebensprobleme der Menschen zu veränderndem Handeln kommt und darin die ›gesellschaftliche Menschheit‹ konstituiert?« (Wolfgang Fritz Haug) Der ungarische Philosoph István Mészáros hat den Menschenbegriff als Scharnier zwischen Marx’ synthetisierender Kritik der kapitalistischen Gesellschaft und seiner emanzipatorischen Vision angesehen. Das Ideal ist da der nicht-entfremdete Mensch und »dessen tatsächliche menschliche Bedürfnisse - im Gegensatz zu ›spekulativ erfundenen‹ und zu praktisch entmenschlichten, ›abstrakt materiellen Bedürfnissen‹«.
Jeff Noonan hat hier an Henri Lefebvres Petitum erinnert, dass man beides angehen müsse, eine »Transformation der Wünsche und Ziele der Menschen – neben und mittels jener der gesellschaftlichen Apparate«. Es gehe »vor allem eine andere Haltung des menschlichen Wesens gegenüber sich selbst«. Ágnes Heller glaubte im Anschluss an Marx, dass im Kapitalismus nur beschränkte und reduzierte Bedürfnisse befriedigt werden – es käme deshalb darauf an, jene »radikalen Bedürfnisse« (wieder) in den Blick zu bekommen, welche die gegenwärtigen Verhältnisse den meisten verweigern und die Gabriel Yoran so zusammenfasst: »freie Zeit, Individualität, Freiheit, Raum zur kreativen Entfaltung und universellen Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, ein Leben ohne Ausbeutung und schließlich Solidarität und ja, Liebe«. Ebenso André Gorz bringt er ins Spiel, der von »qualitativen Bedürfnissen« spricht. Was ihn dann zu einem Gedanken eines französischen Thinktanks führt, der verschiedene Klassen von Bedürfnissen unterschieden hat: von den »lebenswichtigen« über essenzielle, unentbehrliche, nützliche, angemessene, nebensächliche, belanglose, extravagante bis hin zu inakzeptablen, schädlichen Bedürfnissen.
Wer entscheidet darüber? Auch Gabriel Yoran sieht die scharfe Abbruchkante kritisch, hinter der sich der Abgrund autoritärer Versuchungen auftut, »den neuen Menschen« zu formen. Aber es ist, um das in Noonans politischer Zielvorstellung zu formulieren, eben auch so: »Wenn die Leute im Grunde immer noch dasselbe wollen wie im Kapitalismus, wird der Sozialismus keine radikal andere Gesellschaft sein.« Oder, unter heute zwingender Berücksichtigung des Planetaren Paradigma formuliert: Auch wenn die Kritik berechtigt ist, dass die biophysikalische Existenzkrise strukturellen Ursachen in den kapitalistischen Verhältnissen hat, wäre lediglich mit deren »Abschaffung« allein noch nichts gewonnen. Selbst unter Berücksichtigung der Utopie, eine freie Assoziation der Produzentinnen könne dann die Demokratie auf ihre Spitze treiben und kollektive Entscheidungen treffen, in denen die Orientierung an Gebrauchswerten über Tauschlogik obsiegt, bliebe die Frage: Was ist genug, damit Menschen wirklich Menschen sein können, ohne den Planeten zu verbrennen?
Gabriel Yoran hat keine bleischwere Kritik der Warenproduktion vorgelegt, seine mit humorvollen Anekdoten illustrierten und stets selbstreflektierten Überlegungen, die zu einer »progressiven Warenkunde« führen, bleiben unterhaltsam – trotz des beängstigenden Wissens darum, was geschehen kann, wenn wir die Kurve nicht kriegen. Einen solchen Vorzug des Buches wird man betonen wollen in einer Zeit, in der Debattenbeiträge nicht nur immer lauter zu werden scheinen, sondern auch unbedingter, härter, kälter. Dass er keine letztgültigen Antworten vorträgt, wie man das eine – die Zerstörung der Lebensgrundlagen – vermeidet, ohne sich im Irrweg einer »Bedürfnisdiktatur« zu verlaufen, mindert außerdem die Hürde, die zu überspringen sein Plädoyer einlädt.
»Wir werden nicht herumkommen um die gemeinsame Suche nach dem guten Leben miteinander, nach den legitimen Bedürfnissen. Noch die progressivste Warenkunde wäre nur der Schein der Laterne – der Schlüssel liegt anderswo. Es ist nur sehr unbequem, dort zu suchen.« Da ist sie, die Neugier und Offenheit für Antworten, die über das hinausgehen, was heute für vorstellbar gehalten wird. Und was es mit der Laterne auf sich hat, das kann man im Buch lesen. (tos)
Gabriel Yoran: Die Verkrempelung der Welt. Zum Stand der Dinge (des Alltags), Suhrkamp Berlin 2025, 185 Seiten.