»Die grundlegende Reform des industriellen Zivilisationsmodells insgesamt« (1983)

Sozialismus, so Klaus-Jürgen Scherer und Fritz Vilmar schon vor 40 Jahren, ist nicht mehr vorstellbar als bloße demokratische Inbesitznahme der in ihrer Struktur unveränderten kapitalistischen Maschinerie. Kein Ökosozialismus ohne verändertes persönliches Verhalten. Aus dem Archiv linker Debatte.

// Seit Mitte der 70er Jahre treten immer deutlicher katastrophale ökologische wie friedensgefährdende Tendenzen hervor, und es entstehen neue soziale Bewegungen, die in wesentlichen »Überlebens«-Fragen die emanzipatorische Kraft der Arbeiterbewegung ergänzt (oder sogar ersetzt) haben. Der Ökosozialismus geht davon aus, daß die »traditionellen« Essentials des Demokratischen Sozialismus durch diese Denkansätze der alternativen Bewegungen, vor allem der Ökologiebewegung, ergänzt und neu orientiert werden müssen. (…)

Der wichtigste neue Grundsatz des »Ökosozialismus« lautet: Das Ziel einer klassenlosen Gesellschaft ist gleichrangig (oder untergeordnet) dem Ziel einer ökologisch überlebensfähigen Gesellschaft. Daß eine Zunahme des Material- und Energieverbrauches sowie der Umweltzerstörung in bisherigem Maße innerhalb der nächsten Jahrzehnte zum schleichenden Zusammenbruch der natürlichen Existenzbedingungen der Menschheit überhaupt führen wird und daneben die Wahrscheinlichkeit atomarer und anderer Katastrophen steigt, bedarf heute keiner besonderen Begründungen mehr.

Daneben erweist sich eine radikale Erweiterung der sozialistischen Kritik als notwendig. Statt der bloßen Abschaffung der kapitalistisch-profitwirtschaftlichen Herrschaftsverhältnisse ist die grundlegende Reform des industriellen Zivilisationsmodells insgesamt zum Prinzip der sozioökonomischen Emanzipation geworden. Denn in den Industriegesellschaften ist die materielle Produktivkraft- und Produktentwicklung nicht mehr Motor gesellschaftlichen Fortschritts, sondern blockiert teilweise gerade die Wege zu einer humanen Gesellschaft. Sozialismus ist nicht mehr vorstellbar als die bloße demokratische Inbesitznahme der in ihrer Struktur unveränderten kapitalistischen Maschinerie, die sich dann - von ihren kapitalistischen Fesseln befreit - noch ungehemmter entwickeln solle. Die Struktur der Produktionsmittel selbst rückt in den Mittelpunkt der Veränderungsforderung. Sozialismus ist damit nur bei radikalem Umbau des Industriesystems und unter Begrenzung des Produkten»reichtums« realisierbar.

Darüber hinaus ist der weiteren Verstaatlichung von Gesellschaft das Prinzip der weitgehenden Übertragung von staatlichen Funktionen und Kompetenzen an die »assoziierte Gesellschaft« (Marx) entgegenzusetzen. Auch die Theorie und (viel schlimmer noch) die Praxis des Demokratischen Sozialismus erlag oft einer verhängnisvollen Fixierung auf den Staat: In ihm wurde das entscheidende Instrument der gesellschaftlichen Umgestaltung, der Zurückdrängung kapitalistischer Prinzipien gesehen. In den letzten Jahren hat sich unübersehbar gezeigt, daß die zunehmende Ausdehnung staatlicher Tätigkeit auch dann, wenn sie unter wohlfahrtsstaatlichen Zielsetzungen erfolgte, neue partizipationsfeindliche Strukturen hervorbrachte.

Zwar ist auf bestimmte zentrale Steuerungs- und Umverteilungsfunktionen des Staates nicht zu verzichten. Darüber hinaus aber muß seine Funktion in erster Linie darin bestehen, die allgemeine Durchsetzung des »sozialistischen Subsidiaritätsprinzips« gesamtgesellschaftlich abzusichern. Das heißt: Die größeren Institutionen und Organisationseinheiten sollen nichts übernehmen, was in kleinen Basiseinheiten überschaubarer Größe geleistet werden kann. Daher fällt Initiativen von unten, Selbsthilfe-Netzen sowie dezentral-selbstorganisierten Lebens- und Arbeitsgemeinschaften entscheidende Bedeutung für eine humane Gesellschaft zu. Es geht dort bereits heute um eine reale Wiederaneignung vieler Lebenstätigkeiten, denen die Menschen durch Institutionalisierung, Technisierung, Professionalisierung und Monetarisierung entfremdet wurden.

Eine weitere ökosozialistische Modifikation steht im Gegensatz zu fast der gesamten klassisch-sozialistischen Theorie, in der das organisierte Proletariat als entscheidende gesellschaftsverändernde Kraft auftritt: Das »Subjekt« der sozialen Emanzipation läßt sich in Zukunft immer weniger in klassentheoretischen Kategorien bestimmen. Die (Fach-)Arbeiterklasse verhält sich in mancher Hinsicht eher konservativ; ihre Mehrheit (bzw. die ihrer gewerkschaftlichen Repräsentanten) ist beispielsweise ein ideologischer Hauptträger des wachstumsorientierten Fortschrittsbegriffs des hiesigen Industriesystems, und man findet »Wertewandel« und die Träger der neuen sozialen Bewegungen eher in der jüngeren Generation, bei den vielfältigen sozialen Dienstleistungsberufen, den besser (Aus-)Gebildeten sogenannter neuer Mittelschichten sowie bei den tatsächlich oder subjektiv soziokulturell Marginalisierten.

Neu ist auch die Akzentverschiebung, neben der Umgestaltung von Systemstrukturen im veränderten persönlichen Verhalten einen grundlegenden Impuls des gesellschaftlich-politischen Veränderungswillens zu erkennen. Dem fundamentalen Wandel der subjektiven Lebensweise, der Bedürfnisse, Charakterstrukturen und moralischen Werte fällt eine gleichstarke (oder vielleicht entscheidendere) Bedeutung zu wie der Umwälzung der gesellschaftlichen Organisationsstrukturen. In den Worten Erich Fromms ausgedrückt, geht es um das Zurückdrängen der Orientierung des »Habens«, die durch Besitzergreifung, Verantwortungslosigkeit, Machtausübung und Zerstörung charakterisiert ist. Statt dessen muß sich eine auf Liebe und Solidarität basierende Existenzweise des »Seins« durchsetzen. Eine ganzheitliche, zur Partizipation und Gemeinschaftlichkeit fähige Persönlichkeit kann nur entstehen, wenn sowohl die klassisch-autoritären Charakterstrukturen als auch der neue narzißtisch-konsumistische Charaktertyp überwunden werden. Männliche Dominanz und verselbständigtes Konkurrenzverhalten gilt es abzubauen. Ein erweiterter Begriff des Politischen, der auch das scheinbar Private und Persönliche miteinbezieht, muß sich entwickeln: Die emanzipatorischen Ziele werden bereits hier und jetzt in die unmittelbare lebensgeschichtliche Praxis der Individuen, z. B. in alternativen Projekten, integriert.

Als letztes neues Element des Ökosozialismus tritt hinzu: An die Stelle eines Totalkonzeptes von Ökonomie und ihrer Totalumgestaltung tritt das dualwirtschaftliche Konzept, in dem die wirtschaftsdemokratische Strategie des Demokratischen Sozialismus durch eine Graswurzelrevolution außerhalb der »formellen Ökonomie« ergänzt wird. Genossenschaftliche Selbstorganisationsmodelle in überschaubarem und demokratisch aufgebautem Rahmen müssen die Kernelemente einer Gegenökonomie darstellen. Gemeinwirtschaft wächst auch in Randsektoren der Wirtschaft, in Nischen jenseits der industriellen Massenproduktion der großen Konzerne. Die alternativen Projekte, vorwiegend im soziokulturellen Bereich, in der sogenannten Reproduktion, im Kleinhandel und in der handwerklichen Produktion zu finden, ergänzen in einer derartigen Ökonomie den Kernbereich der maschinellen und seriellen Großproduktion (für den die klassischen Forderungen nach Wirtschaftsdemokratie weiterhin angemessen sind).

Eine derartige ökonomische Systemveränderung kann nur allmählich vonstatten gehen (und setzt daher voraus, daß uns für einen derartigen Wandlungsprozeß auch angesichts der vielfältigen menschlichen Destruktivkräfte noch genug Zeit bleibt). Sie hat den Vorteil, Erhaltenswertes nicht wie bei einer plötzlichen Totalveränderung mit zu zerstören. An die Stelle totaler Konfrontation, z. B. in Bezug auf die verhängnisvollen Weltmarkteinflüsse, soll, wo immer möglich, eine Strategie des Unterlaufens und des graduellen Zurückdrängens treten.

Eine Theorie und Praxis des Ökosozialismus wird gewiß nicht das Veränderungspotential staatlichen - und damit notwendigerweise parlamentarischen - Handelns überschätzen. Daß es hier im Gegensatz sowohl zur reformerischen wie zur revolutionären Variante des bislang vorherrschenden Staatssozialismus um ein Veränderungskonzept geht, bei dem der Verhaltenswandel der einzelnen ein unabdingbares Wesenselement ist, sollte aus dem Gesagten klar geworden sein.

Diese Grunderkenntnis sollte aber niemanden darüber hinwegtäuschen, daß ohne schrittweise grundlegende Veränderung der politisch-rechtlichen Rahmenbedingungen die lebensnotwendige Umgestaltung des persönlichen und Familienlebens, des Konsums, der Arbeits- und Wirtschaftsorganisation, des Wohnens wie der Kultur-und Gesundheitsorganisation nicht oder nur äußerst mühsam realisiert werden kann - ganz zu schweigen von einer ökosozialistischen Sicherheits- und Friedenspolitik, die an die Stelle der atomaren Abschreckung treten muß. Diese Rahmenbedingungen aber sind nicht zu schaffen - will man nicht revolutionären Illusionen nachhängen -, wenn man nicht parlamentarische Mehrheiten erringt und mit ihnen eine ökologische Reformgesetzgebung verwirklichen kann. Es gilt also: Ohne ökosozialistische Wandlung des Bewußtseins und Verhaltens von Millionen Bürgern keine ökologische Politik und Gesellschaft - aber ebenso umgekehrt: Ohne grün-roten Machtwechsel in der Politik kein Handlungsspielraum, keine Lebensperspektive für die wachsende Millionenzahl von Bürgern, die tendenziell bereit sind, die Formen ihres Zusammenlebens und -arbeitens zu verändern. (…) //

aus Klaus-Jürgen Scherer und Fritz Vilmar: Der Demokratische Sozialismus muss ein Ökosozialismus werden, in: L’80 - Demokratie und Sozialismus. Politische und literarische Beiträge, Heft 26, Mai 1983.

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