Das Horn der Fülle und die Fülle des Lebens (2013)
2010 setzte der Bundestag eine Enquete-Kommission ein, um Empfehlungen »für ein ökonomisch, ökologisch und sozial nachhaltiges Wirtschaften« zu entwickeln. Im Archiv linker Debatte ein Auszug aus einem der zahlreichen Sondervoten des drei Jahre später veröffentlichten Abschlussberichts.
// Das „Deutungs-Monopol“ des Wachstumsparadigmas ist angekratzt. Das Unbehagen an dem herkömmlichen Wachstumsparadigma war Antrieb für die thematische Befassung der Enquete-Kommission mit dem Thema. Die konkrete Arbeit der Kommission hat indes gezeigt: Das Wachstumsparadigma wird heute ebenso vehement verteidigt, wie in Frage gestellt. In der gesellschaftspolitischen Debatte und in den realen Politiken von Staat, Unternehmen und Verbänden wird weiterhin auf wirtschaftliches Wachstum zur Überwindung der Wirtschaftskrise und Problemen wie Ungleichverteilung gesetzt. Kritikerinnen und Kritiker hingegen betonen die zunehmende Unhaltbarkeit einer rein auf das Wachstum des Bruttoinlandprodukts ausgerichteten Strategie. Hinter beiden Positionen verstecken sich Annahmen, die es zu explizieren gilt. Wachstumsbefürwortung ist nicht voraussetzungslos mit dem Fortbestand einer freiheitlich-demokratischen Gesellschaftsordnung vereinbar; Wachstumskritik bedeutet nicht automatisch Systemkritik. In den dazwischen angesiedelten diskursiven Räumen verbleiben eine Reihe offener Fragen, die sich auf vier Komplexe reduzieren lassen:
Das sind die Herausforderungen der unvollendeten oder fehlgeleiteten europäischen Moderne, die sich insbesondere in dem Wandel zum Anthropozän zeigen, also in der Tatsache, dass die Menschheit selbst zum geologischen Faktor wird. Künftige Entwicklungen bauen auf anthropogen veränderten Beständen auf, die Alternative heißt zerstören oder gestalten.
Seit der industriellen Revolution zeigt sich die Ambivalenz beziehungsweise die Janusköpfigkeit der Moderne, die durch eine fortgesetzte Ausdifferenzierung, Rationalisierung, Beschleunigung und Internationalisierung, angetrieben vom ökonomischen Verwertungszwang, erzeugt wird. Dieser Prozess gerät an Grenzen, die ein Umsteuern in Richtung Dezentralität, Kooperation, Ganzheitlichkeit und Entschleunigung verlangen.
Die durch Globalisierung, Digitalisierung und Finanzkapitalismus erfolgte Entbettung der Ökonomie aus gesellschaftlichen Bindungen. Sie kann nicht mehr durch den Nationalstaat und hohes Wachstum beendet werden, sondern braucht heute eine Antwort, die nicht nur den sozialen, sondern auch den globalen und ökologischen Anforderungen gerecht wird. Das stellt insbesondere die Frage nach der Gestaltungsfähigkeit der Politik, der Ausweitung der Demokratie, nach umfassenden Formen von Emanzipation und Gerechtigkeit, sowie der Herstellung von global wirkungsvollen, das heißt gestaltenden Strukturen und Prozessen von Governance.
Und schließlich, die sich verändernde Rolle der Zivilgesellschaft und des Alltags von Menschen jenseits von Markt und Staat, die zunehmend als wichtige Sphären von Wohlstand und Lebensqualität anerkannt werden und politische Gestaltung vor neue Herausforderungen stellt. (…)
Die Enquete-Kommission hat mit ihrem Bericht zwar viele Fragen unbeantwortet gelassen, aber eben auch – so hoffen wir zumindest – eine breitere öffentliche Diskussion initiiert. Damit hätte sie schon einen wichtigen Teil ihres Auftrags erfüllt. Sehr deutlich sind der Handlungsbedarf und die Optionen in den Fragen der Systemgrenzen und der Entkopplung geworden. Offen geblieben sind viele Fragen, die auf das Wesen des Wachstums abzielen. Ob diese im Rahmen einer weiteren Enquete schlüssiger zu beantworten sind, mag wegen der hohen politischen Aufladung des Themas fraglich bleiben. Vielleicht ist das aber etwas losgelöst vom Wachstumsbegriff mit den Begriffen Wohlstand und Lebensqualität möglich.//
aus: Das Horn der Fülle und die Fülle des Lebens. Offene Fragen der EnqueteKommission, Sondervoten zum Schlussbericht der Enquete-Kommission »Wachstum, Wohlstand, Lebensqualität – Wege zu nachhaltigem Wirtschaften und gesellschaftlichem Fortschritt in der Sozialen Marktwirtschaft«. Unterstützt von den Sachverständigen Prof. Dr. Ulrich Brand, Prof. Hanns-Michael Hölz, Michael Müller, PD Dr. Norbert Reuter und Prof. Dr. Uwe Schneidewind sowie den Abgeordneten Dr. Hermann Ott und Dr. Matthias Zimmer sowie den Fraktionen SPD und DIE LINKE.