Auf einer Eisscholle
Kanzler Merz spricht über »die Unausweichlichkeit von Veränderungen«, worauf er damit abzielt, vertieft aber bloß die dreifache Integrationskrise des Kapitalismus. Claus Offe wusste, was das mit Wachstum zu tun hat. Über einen Kompass, der das wirklich Pragmatische zum Radikalen werden lässt.
»Wir brauchen«, da hat der Friedrich Merz aus falschen Gründen das Richtige in die Generaldebatte des Bundestags zum Haushalt geworfen, »nämlich ein Verständnis im Land für die Unausweichlichkeit von Veränderungen.«
Schlagzeilen machte die Kanzler-Äußerung nur am Rande, was damit zu tun hat, dass es Merz ums »Einschwören« auf »eine Reform des Sozialstaats« ging, solcherlei Dutzendware der aktuellen politischen Kommunikation muss nicht mehr groß hervorgehoben werden. Die »Notwendigkeit grundlegender Reformen«, gern auch als »echte Reformen« sprachlich veredelt, hängt als dauerfeuernder Dreiklang über der Republik: Nur wenn erstens »die Wirtschaft« wieder wachse, könne man zweitens »die sozialen Versprechen, die wir uns ja gegenseitig gegeben haben, auch künftig einhalten«, wozu irgendwie drittens zählt, die »grundlegende Korrektur« der Einwanderungs- und Asylpolitik.
Die drei »Themen« sind widersprüchlich miteinander verbunden, davon redet Merz nicht, es treibt ihn aber in jene falsche Richtung: So, wie die Regierung es angeht, wird die Nachfrage der Vielen belastet, was auf das Wachstum und die finanziellen Möglichkeiten des Staates drücken wird, ähnlich wirkt das Abschottungsbemühen in einem Land, wo »die Wirtschaft« auch deshalb »schwächelt«, weil es an Arbeitskräften fehlt; beides zusammen fördert also in Wahrheit den allgemeinen Niedergangsdiskurs, der von Teilen einer recht selbstzufriedenen Bevölkerung mehr und mehr zum Anlass genommen wird, eine rechtsradikale Partei zu wählen, worauf dann nicht nur die Regierung nach noch weniger Migration und noch mehr »echten Reformen« rufen wird. Im Namen der Demokratie und um des Wachstums willen, das eine gilt stets als Voraussetzung für das andere.
Man kann an Merz und Co. also viel kritisieren, auch am Mittun der SPD. Für die »Unausweichlichkeit von Veränderungen« wird meist nur getrommelt, wenn frühere Landgewinne gegen den Kapitalismus zurückgedreht werden sollen: Sozialstaat, Arbeitsgesetze usw. So wächst einerseits einmal mehr der Druck auf das »Sozialeigentum« (Dörre, Castel), also jene »Eigentumsform, die Lohnabhängigen über berufliche Fähigkeiten, soziale Rechte, tarifliche Normen und Mitbestimmungsmöglichkeiten etwas ermöglicht, was zuvor ausschließlich an privaten Besitz gekoppelt war: die Chance zu einer längerfristigen Lebensplanung«. Auf der anderen Seite aber ist diese längerfristige Lebensplanung längst nicht mehr nur durch die Verschiebung der Gewichte in der Auseinandersetzung zwischen Kapital und Arbeit unter Druck, sondern auch von einer planetaren Krise, die zu einer Bewohnbarkeits-, also Existenzkrise geworden ist – dies nicht zuletzt wegen der Art und Weise, mit der auf Integrationsprobleme im Kapitalismus politisch reagiert wird: Wachstum ist nicht »bloß« Fluchtpunkt der Kapitallogik, sondern auch Selbstzweck staatlicher Steuerung, weil aus dem »Erfolg der Wirtschaft« jene Kapazitäten resultieren, die prinzipiell zu knapp bemessen sind, weil Erwartungen und Forderungen widersprüchlich mit einander verbunden beiderseits der Frontlinie Kapital-Arbeit in einer Spirale der Anspruchsinflation immer höhere Stufen erreichen, zu deren Befriedigung (»die Politik muss liefern«) dann (auch) immer weiteres Wachstum erforderlich ist.
Weil nicht nur Friedrich Merz daran scheitern muss, schwebt strukturell bedingt das Omen der »Unregierbarkeit« über allem politischen Handeln, die »unmittelbare Gefahr eines chronischen oder gar akuten Staatsversagens«. Verallgemeinert in einem Alltagsbewusstsein, dem Whatsapp-Gruppen, gewissenlose Glücksritter der Aufmerksamkeitsökonomie und von der Komplexität der Herausforderungen verunsicherte Parteien die Stichworte liefern, »funktioniert« dann schon angeblich »nichts mehr«, was jenen ihren Vorsprung sichert, die »take back control« auf ihre Fahnen geschrieben haben.
»Unregierbarkeit« war – wir hatten das unlängst recht ausführlich hier – ein Thema von Claus Offe, dessen Tod vor einigen Tagen bisher wenig Aufmerksamkeit erzeugte. Weil »einfache Antworten« nicht seine Sache waren, wie Michael Hesse meint? Es ist nicht der einzige der wenigen Nachrufe, die an Offes Warnungen vor »Überforderungen liberaler Demokratien in einer Ära multipler Krisen« erinnert, und damit an einen Punkt, der größeres heutiges Interesse verdient hätte. Steffen Mau und Michael Zürn erinnern nicht nur an »Strukturprobleme des kapitalistischen Staates«, sondern auch an den warmherzigen Menschen Offe, (der so in den 1990er Jahren Studenten der Humboldt-Universität gegenübertrat, die schon mehr auf ihre Meinung hielten, als angemessen gewesen wäre). Johan Schloemann zitiert Offes schönen Satz, dass es nicht helfe, »die historische Beendigung des Kapitalismus durch Vorschaltung eines magischen Präfixes beschleunigen zu wollen«. Alfred J. Noll greift unter anderem Offes Gedanken auf, »bestimmend für die heutigen Gesellschaften sei nicht mehr die von Marx in den Vordergrund gerückte Vorstellung sozialstrukturell definierter und verfestigter Antagonismen, vielmehr seien es (…) die widerstreitenden Funktionslogiken gesellschaftlicher Teilsysteme«. Peter A. Kraus ruft spätere Themen Offes auf: »Sozialpolitik in einer erneut entfesselten kapitalistischen Ökonomie«, »die neuen sozialen Bewegungen zu den Herausforderungen der ökologischen Krise«. Und Ingo Stützle hat viel von Offes »institutioneller Selektivität« der Staatsapparate und seiner »Formanalyse der Partei als Konkurrenzpartei« gelernt.
Mit Claus Offe im Kopf lässt sich viel über die »Unausweichlichkeit von Veränderungen« nachdenken, freilich anders als Merz im Sinne hat, zum Beispiel: Was bedeutet es, wenn eine Kritik der politischen Physik sich wie eine Linse vor alle Panoramen schiebt, die man mit der Kritik der politischen Ökonomie auf den Begriff zu bringen versucht hat? Welche Veränderungen müssten dann als unausweichlich gelten und, beinahe schwieriger noch, wie können Gesellschaften sich diese erfolgreich zumuten, die bei der erforderlichen »Ausbalancierung der Trias von System-, Sozial- und ökologischer Integration« (siehe etwa Uwe Schimank) immer auf »zwei Typen von Trade-offs« trifft: Erstens drohen bestimmte »Umgangsweisen mit der ökologischen Problematik in sozialintegrativer Hinsicht den gesellschaftlichen Zusammenhalt zu strapazieren«, zumal »das, was sozialintegrativ wirkt, so aus ökologischen Rücksichten nicht mehr fortgeführt werden kann«. Und zweitens kollidieren »ökologische Erfordernisse in systemintegrativer Hinsicht immer wieder mit Funktionserfordernissen der wirtschaftlichen Leistungsproduktion«.
Dieser »Balanceproblematik« kann man auch anders theoretisch beikommen, welches analytische Besteck man nimmt, ändert aber nichts an der praktischen Schwierigkeit, sie zu lösen. Claus Offe wusste das, und das heißt heutzutage eben auch, Nichtwissen zuzugeben: »Wir stecken in einer Sackgasse. Wie wir da rauskommen, weiß niemand«, sagte er 2013 in einem Gespräch, in dem es um die auch oben angesprochenen »Trade-offs« ging. Wer zur Kenntnis nimmt, wie »angebliche Fortschritte in der Vergangenheit erhebliche Zerstörungen verursacht« haben, kommt zu dem Schluss: »Wachstum ›wie gehabt‹ ist schlicht unerträglich.« Zugleich ist unter den gegebenen Bedingungen Wachstum »nötig«. Das passt nicht zusammen, aber Claus Offe wusste eben, dass auch magische Gedanken an eine Beendigung des Kapitalismus keine Beschleunigung der Problemlösung bringen. Er schlug vor, John Stuart Mills »Utopie einer lebbaren Stagnation« ernst und sich engagierter Fragen anzunehmen wie: »Wie können wir uns Stagnation ohne Minderung des erlebten Wohlergehens leisten? Wie müssen wir unsere Vorstellung von Wohlergehen neu buchstabieren?« Und entsprechend waren auch seine Erwartungen, von denen er zugleich die Grenzen kannte: »Die Politik verweigert die Auskunft darüber, was passieren wird, was passieren sollte, und was passieren kann, wenn nichts passiert. Sie ist, abseits der Öffentlichkeit, vom Krisenmanagement okkupiert und schon deswegen unfähig, eine Vorstellung des Fortschritts zu finden, der sie befähigen würde, den Rückschritten verlässlich Einhalt zu gebieten.«
Das ist, wenn man den Nexus von Steigerungslogiken und planetaren Grenzen zu einem allem anderen vorausgehenden Drehpunkt macht, vielleicht nicht (mehr) möglich – jedenfalls im hergebrachten Sinne von »Veränderungen«. Wer über deren »Unausweichlichkeit« spricht, geht ja davon aus, dass sie in zeitlicher wie qualitativer Hinsicht problemlösend sind: Man setzt sie um und die Herausforderung ist beseitigt. Ist das auch bei der planetaren Krise so? Wissen wir genug über die komplex vernetzten Zusammenhänge des Erdsystems, über die gesellschaftlichen Pointen einer »gelingenden Klimapolitik«?
Einer der bisher verfolgten paradigmatischen Pfade, der in Sachen Sozial- und Systemintegration tiefe Spuren hinterlassen hat, hat sich hinsichtlich der ökologischen Integration als Sackgasse erwiesen und das kommt nun auch langsam in der reichweitenstärkeren Öffentlichkeit an: »Hier scheitert gerade, ohne dass groß darüber gesprochen wird, ein jahrzehntealter Plan: die ökologische Modernisierung der westlichen Industrieländer«, schreiben Tobias Bachmann und Johannes Schneider. Dieser habe darin bestanden, dass die »westlichen Gesellschaften« von »sich aus und mittels technologischer Innovationen sicherstellen« würden, »dass sie die von ihnen verursachten ökologischen Probleme wieder in den Griff bekommen.« Die Lösung sollte also »in das System kapitalistischer Wertschöpfung« integriert werden – also unter Beibehaltung der Möglichkeit wirtschaftlichen Wachstums.
Aber ach: »Dass ein absolutes Entkoppeln von Wirtschaftswachstum und CO2-Emissionen gelingen kann, ist selbst unter Berücksichtigung des hochgradig umstrittenen Vorhabens, CO2-Emissionen wieder aus der Atmosphäre zu fischen – äußerst unwahrscheinlich. Dass eine wachsende Weltwirtschaft mit einem generell sinkenden Ressourcenverbrauch und gänzlich verschwindenden Schadstoffemissionen (in Böden, Seen und Flüssen) vereinbar ist, scheint sogar gänzlich außerhalb des Möglichen zu liegen.«
Bachmann und Schneider enden mit pessimistischen Einschätzungen der »Lernwilligkeit der westlichen Gesellschaften«, deren Fähigkeit zur »Einsicht in einen unauflösbaren Zielkonflikt zwischen einem bewohnbaren Planeten und dem kurzfristigen Erhalt des Wohlstands« nicht ausreichend sei. Es reiche auch nicht, mit der gescheiterten Erzählung von der ökologischen Modernisierung des Kapitalismus Schluss zu machen – man bräuchte dann schon eine neue. Und da haben wir von Um- und Durchsetzungsfragen, der Überwindung der »Trade offs« noch gar nicht angefangen zu reden.
Derweil wird aber fröhlich versucht, die alte Geschichte am Leben zu halten: »Der Kapitalismus ist der beste Freund, den der Klimaschutz noch hat«, heißt es dann zum Beispiel. Andere tauchen unter den strukturellen Probleme hinweg und betonen lieber Widersprüche zwischen versagender globaler Klimapolitik und »problematischem Moralisieren« (Hafermilch, Lastenräder, ökologischer Fußabdruck). Letzteres habe zu »Diskursverschließungen« geführt, von denen man ja weiß, dass der wohlstandssatte Bürger aus lauter Notwehr in Richtung AfD ausweicht.
Die Hoffnung darauf, »der Kapitalismus« werde letzen Endes auch »Trumps Kampf gegen Windmühlen« zum Scheitern bringen (Innovation! Investitionsentscheidungen!), ist verständlich. Ein genauerer Blick darauf, was sich »in der Wirtschaft« in Sachen Umbau tut, mag helfen, den jeweiligen Entwicklungsstand der Produktionsmittel und so weiter zu kennen, was Voraussetzung ist, »Dissonanzen zwischen materiellem Gehalt und Formbestimmung zu benennen«, und »Keimformen neuer Verhältnisse« zu erkennen, so Hans Thie einmal mit Blick auf die Frage, wie überhaupt »passende Strategien« von Weltveränderung formuliert werden können.
Auf das politisch drängende Paradox, dass einerseits »die Demokratie« auf Wirtschaftswachstum angewiesen sei, vor allem weil aus diesem die Kapazitäten der Sozialintegration stammen – staatlicherseits ebenso wie konsumseitig, Wachstum also als »stärkste Waffe gegen die AfD« gilt, andererseits aber sich die Entkoppelungsidee als Illusion erwiesen hat, gibt es bisher wenig überzeugende Antworten.
»Seit 1991 sinkt die Emissionsintensität im Schnitt um nur drei Prozent jährlich. Bei dieser Rate würde Deutschland 2045 nur noch ein BIP von 650 Milliarden Euro erwirtschaften können, um das Ziel der Klimaneutralität trotz mangelnder Entkopplungsfortschritte erreichen zu können«, rechnete vor knapp zwei Jahren die Bertelsmann-Stiftung vor. »Ein solcher Transformationsverlauf liefe Gefahr, den Rückhalt in Wirtschaft und Gesellschaft zu verlieren«. Einen Rückhalt der ohnehin zurückgeht, befeuert von einer politischen Bearbeitungsweise, die von fundamentalen Selbsterhaltungsfragen ablenkt, indem diese »verstoffwechselt und in andere Bereiche überführt« werden, wie Philipp Staab das verbreitete Gebaren beschreibt, alles zu »Kulturkampfthemen« zu machen. Deren polarisierende öffentliche Verhandlung dann wiederum der radikalen Rechten zu spielt … und so fortan.
Als Claus Offe 1989 in der »Zeit« zum Ende des Nominalsozialismus gefragt wurde, warnte er vor »Schadenfreude, Selbstgerechtigkeit und Gefühlswallungen« in den »kapitalistischen Demokratien Westeuropas (KDW)«. Dies würden »sich noch nach dem untergegangenen Rivalen zurücksehnen, gegen den es so leicht war, Überlegenheit unter Beweis zu stellen. Diese Gesellschaften müssen jetzt als ›gute‹ Gesellschaften überzeugen, nicht bloß als ›bessere‹.« Den Gedanken hat später auch Volker Braun aufgegriffen: »Es konnte dem Kapitalismus gar nichts Schlechteres passieren als unser Untergang. Gegenüber dem Sozialismus konnte er immer besser sein.«
Was »gut« ist und es noch sein kann, wird im planetaren Paradigma nicht bloß an der Latte der ökonomischen Gleichheit und sozialen Freiheit gemessen, sondern auch daran, was innerhalb planetarer Grenzen überhaupt passt, also in allgemeiner Weise (nicht nur für einen globalen Norden) statthaft sein kann. Das und nichts geringeres wäre der Zielkorridor von jener »besseren Gesellschaft«, für die – wie es Mau und Zürn mit Blick auf Demokratie- und Gerechtigkeitskrise formulieren –, sich Claus Offe eingesetzt hat. Die »Unausweichlichkeit von Veränderungen« geht darüber aber hinaus, zwingt den Lösungsoptionen »der alten Fragen« einen Kompass auf, der das wirklich Pragmatische zum Radikalen werden lässt. Oder, wie es Claus Offe vor 20 Jahren in einem für die biophysikalische Existenzkrise passendem Bild einmal formuliert hat, Schloemann hat in seinem Nachruf daran erinnert: »Wer auf festem Grund des Machbaren und Realistischen zu stehen meint, der steht möglicherweise auf einer Eisscholle, auf der man ausrutschen oder die wegschmelzen kann.« (tos)